Philipp Kutter muss zweimal bitten. Er habe einen kurzen Moment nicht auf sich geachtet, sagt er. Mit wem redet er? Er sitzt im Rollstuhl, den Oberkörper leicht in Richtung des Handys geneigt, das zu seiner Linken befestigt ist. Erst auf Nachfrage wird klar, dass er sich nicht etwa absichtlich zu seinem Smartphone gebeugt hat und mit jemandem telefoniert. Nein – er bittet um Hilfe, weil sein Oberkörper irgendwie nach links gerutscht ist und er sich nicht mehr aufrichten kann. Nur die linke Hand kann er selbst bewegen.
Es ist Donnerstagabend im Paraplegiker-Zentrum Nottwil LU. SonntagsBlick besucht den vielleicht bekanntesten Patienten hier: Philipp Kutter (47), Mitte-Nationalrat und Stadtpräsident von Wädenswil ZH, verheiratet, Vater zweier schulpflichtiger Töchter. Seit einem Skiunfall in Scuol GR ist er teilweise gelähmt. Bei einem Sturz – auf der blauen Piste – brach er sich den fünften Halswirbel.
Bündnisschmied in Bundesbern
Bis zu jenem 3. Februar war er ein Mann, der nicht um Hilfe bitten muss, sondern einer, der anpackt und gestaltet, der – wie es so treffend heisst – mitten im Leben steht. In seiner Seegemeinde ist er als «Stapi» der Lokalmatador, zur Eröffnung der Badisaison sprang er vom Sprungturm. In Bundesbern war er Taktierer und Bündnisschmied. 2020 machte er Furore, weil er im Alleingang eine flächenmässige Erhöhung der Kinderzulagen um 370 Millionen Franken durchgeboxt hatte. Dann arbeitete er als Präsident der zuständigen Bildungssubkommission des Nationalrats das Gesetz für eine landesweite Kita-Förderung aus. Kosten für den Bund: rund 710 Millionen Franken.
Kein Parlamentarier kennt das Regelwerk besser als er. In Gesellschaftsfragen paktiert er gern mit der Linken, in der Medienpolitik tickt er betont bürgerlich. Am 1. März erlebte Kutter im Bundeshaus einen grossen Triumph: Eine Mitte-links-Mehrheit nahm in der grossen Kammer die Vorlage zur Kita-Förderung an. Diesen Erfolg musste Kutter schon aus dem fernen Nottwil beobachten.
Neun Monate Reha
Seit dem 4. Februar lässt er sich dort behandeln. Um 8 Uhr geht es in die Pflege, um 10 Uhr startet die Therapie, dann Mittagessen, nachmittags wieder Therapie. Am Dienstag werden es 100 Tage sein, die er im Zentrum verbringt. Geplant ist eine Reha-Zeit von neun Monaten, laut Plan sollte Kutter Ende Oktober die Klinik verlassen können.
Was macht das mit einem, wenn man auf einen Schlag auf Hilfe angewiesen ist, wenn man nicht einmal ohne Hilfe einen Schluck Wasser trinken kann?
«Ich muss das lernen»
Kutter spricht mit Bedacht, nicht langsam, aber mit Pausen, ab und zu wandert seine linke Hand zum Gesicht. «Es ist schon eine sehr grosse Umstellung», sagt er. «Ich brauche Hilfe für Sachen, für die ich nie jemanden fragen musste – und heute muss ich sehr oft meine Nächsten um etwas bitten. Daran muss man sich gewöhnen. Ich muss das lernen. Ich frage ja eigentlich nicht gerne wegen jedem Handgriff.» Zugleich legt er Wert auf die Feststellung: «Aber ich kann auch helfen.» Die Digitalisierung sei ein Segen. Heutige Mobiltelefone kann man ziemlich gut mit der Stimme bedienen.
In seinem Kanton sorgte Kutter diese Woche für Schlagzeilen, weil er angekündigt hat, trotz seines Handicaps – das Wort Behinderung verwendet er nie – im Herbst für den Ständerat zu kandidieren. Es scheint, als ob er jetzt erst recht auf die Politik setzen will. Und das Stadtpräsidium von Wädenswil? Auch das habe er sich gut überlegt, sagt Kutter: «Das Amt möchte ich gerne behalten.»
«Bis jetzt fiel ich noch nie in ein Loch»
Die Therapie kostet ihn körperlich und mental Kraft, klar, «aber wieso sollte ich nicht an einer Wahlkampfveranstaltung oder an einem Podium teilnehmen können?» Für die Politik gebe es schliesslich vor allem zwei Voraussetzungen: «Man muss reden und klar denken können. Letzteres wird den Politikern ja oft abgesprochen», lacht er.
Wer mit Kutter spricht, hört dieses spitzbübische Lachen immer wieder. Hat er denn nie Momente, in denen er aufgeben möchte? «Natürlich kommt es vor, dass ich denke, ach, hätte ich damals doch mit meinen Freunden in Scuol im Café eine Cremeschnitte gegessen, statt Ski zu fahren. Aber ich fiel bis jetzt noch nie in ein Loch. Ich hadere nicht.»
Wöchentlicher Besuch der Familie
Ein wichtiger Faktor ist die Familie. Seine Töchter sind neun und elf Jahre alt. Auf seinem Gefährt klebt ein Sticker mit der Aufschrift «Bester Papa». «Meine Familie ist extrem wichtig, sie gibt mir unglaublich Halt.» Kutter schwärmt, wie seine Frau «den Laden zusammenhält». Das grösste Problem seiner Kinder sei, dass er nicht bei ihnen sei. «Sie wollen einfach, dass ich bald wieder zu Hause bin. Ob als Fussgänger oder Rollstuhlfahrer, ist nicht so wichtig.» Er sieht sie täglich per Video, mindestens einmal in der Woche kommen sie zu Besuch.
Seinen politischen Dossiers will Kutter treu bleiben – und doch habe die veränderte Situation einen Einfluss: «Ich gehöre jetzt zu den Menschen mit Handicap, da habe ich jetzt sicher ein grösseres Sensorium.»
Ihm sei es schon immer ein Anliegen gewesen, dass in der Schweiz alle gleichberechtigt mitmachen können. Er erinnert an die Ehe für alle, für die er eingestanden war. «Es wäre mir eine Freude, wenn ich im Ständerat die Stimme für Menschen mit Handicap sein könnte.»
Kleine Ziele
Was ist sein Ziel? «Man sollte auch Freude an den kleinen Erfolgen haben: das Espressotässli heben oder den Daumen bewegen zu können. Jetzt arbeite ich daran, dass ich wieder selber Zähne putzen kann. Das wäre toll!»
Ironischerweise bringt Kutters Lähmung umso mehr Bewegung in den Zürcher Ständeratswahlkampf. Der Schicksalsschlag beschert ihm viel Medienpräsenz – und grosse Sympathien. Die Strategen von SVP und FDP, die mit Gregor Rutz (50) und Regine Sauter (57) um den vakanten Sitz buhlen, dürften seit Kutters Ankündigung etwas nervöser geworden sein. Mit seinem politischen Profil allerdings bedrängt Kutter vor allem den bisher als gesetzt geltenden Amtsinhaber Daniel Jositsch (58) von der SP, der mit seiner glücklosen Bundesratskandidatur für Irritationen gesorgt hatte. Es könnte also spannend werden.
Aber Kutter hat noch etwas Wichtigeres vor: «Das grosse Ziel ist, dass ich eines Tages wieder eigenständig meinen Alltag bewältigen kann.»