Herr Süssli, US-Vizepräsident J. D. Vance sagte an der Münchner Sicherheitskonferenz, Europa müsse mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit übernehmen. Wie wirkte das auf Sie?
Thomas Süssli: Für mich ist das ein Anzeichen dafür, dass die Zeitenwende tatsächlich eingetreten ist. Mir stellt sich die Frage: Was passiert jetzt? Ist das nur eine erste Positionierung – folgt noch mehr? Das gilt es jetzt abzuwarten und zu beobachten.
Sie klingen relativ entspannt. Warum reagieren nicht alle so wie Sie?
Es sind vor allem europäische Politiker, die nicht entspannt reagieren. Ich bin kein europäischer Politiker.
Sie können noch gut schlafen?
Ich schlafe eigentlich immer gut, weil ich erfüllte Tage habe und abends müde bin. Aber natürlich mache ich mir Gedanken, wie es weitergehen könnte. Wir leben in einer multipolaren Welt – die Machtzentren USA, China und Russland sprechen jetzt miteinander und suchen Lösungen für die grossen Themen. Die Schweiz hat in der Vergangenheit immer auf multilaterale Wege gesetzt – diese Zeit ist vorbei.
Trump poltert, Vance provoziert – und zur Nato sagen die US-Amerikaner: «Make Nato great again.» Was gilt?
Bereits 2012 hat Präsident Obama gesagt, dass sich die USA nicht allein auf den pazifischen und den atlantischen Raum konzentrieren können – Obama nannte das den «Pivot to Asia», den «Schwenk nach Asien». Präsident Trump hat in verschiedenen Szenarien wiederholt, dass für ihn der strategische Herausforderer China ist. Die USA konzentrieren sich dadurch verstärkt auf den Pazifik. Es ist noch nichts beschlossen, aber es könnte bedeuten, dass sich die USA vermehrt aus Europa zurückziehen.
Was bedeutet das für Europa?
Europa muss sich Gedanken darüber machen, wie es die eigene Sicherheit stärken will. Und die Schweiz als Teil von Europa wird das auch machen müssen – wir sind Teil der Sicherheitsarchitektur in Europa.
Und welche Rolle wird die Schweiz dabei spielen?
Das entscheidet die Politik. Klar ist: Wir dürfen kein Sicherheitsrisiko mitten in Europa sein. Wir müssen die Schweiz glaubwürdig schützen können – am Boden, in der Luft und im Cyberraum.
Korpskommandant Thomas Süssli (58) ist seit Anfang 2020 Chef der Armee. Er machte eine Lehre als Chemielaborant, bildete sich zum Programmierer und zum Wirtschaftsinformatiker weiter. Er machte bei den Banken UBS, Credit Suisse und Vontobel Karriere. 2015 wechselte er vom Miliz- ins Berufskader und wurde Kommandant der Logistikbrigade. Süssli ist verheiratet, Vater von zwei Kindern und wohnt in Oberkirch LU.
Korpskommandant Thomas Süssli (58) ist seit Anfang 2020 Chef der Armee. Er machte eine Lehre als Chemielaborant, bildete sich zum Programmierer und zum Wirtschaftsinformatiker weiter. Er machte bei den Banken UBS, Credit Suisse und Vontobel Karriere. 2015 wechselte er vom Miliz- ins Berufskader und wurde Kommandant der Logistikbrigade. Süssli ist verheiratet, Vater von zwei Kindern und wohnt in Oberkirch LU.
Serge Gaillard, der Leiter der Sparkommission, sieht das anders: Er empfiehlt, Sie sollten den Fokus auf Luftabwehr und Cybersicherheit legen. Russische Panzer am Rhein sind unwahrscheinlich.
Ein potenzieller Gegner wird uns immer dort angreifen, wo wir am schwächsten sind. Wenn wir die Bodenabwehr aussen vor lassen, machen wir uns hier angreifbar. Deshalb müssen wir in einer ersten Phase alle Fähigkeiten stärken.
Sie bekommen dennoch weniger Geld, als Sie verlangt haben. Hält die Politik Ihre Szenarien für Panikmache?
Wenn wir den europäischen Politikern und Nachrichtendiensten zuhören, müssen wir davon ausgehen, dass Russland 2027 bereit ist, Europa weiter zu destabilisieren und den Konflikt eskalieren zu lassen. 2027 wird für die Schweiz das gefährlichste Jahr – dann ist der Unterschied zwischen der Bedrohung von aussen und unseren Möglichkeiten am grössten. Das Flugabwehrraketen-System Patriot und die F-35 erhalten wir erst nach 2027.
Wie realistisch ist es aus militärischer Sicht, dass im dritten Jahrtausend ein europäischer Kleinstaat sich und seine Neutralität im Alleingang verteidigen kann?
Die Schweiz ist neutral. Punkt. Solange wir neutral sind, werden wir nicht einem Bündnis beitreten. Punkt. Und man erwartet von uns, dass wir als neutraler Staat bereit sind, unsere Souveränität selbst zu verteidigen.
Trotzdem kooperiert die Schweiz immer stärker mit der Nato – neuerdings auch in Szenarien für den Angriffsfall, den Artikel-5-Übungen.
Vielleicht haben wir das nicht richtig gut erklärt. Die Schweiz grenzt an die Nato-Länder Deutschland, Frankreich und Italien. Die Nato trainiert, was passiert, wenn ein Nato-Land angegriffen wird. Bei einer Beteiligung an diesen Übungen trainieren wir, wie sich die Schweiz in so einer Situation als neutrales Land verhalten würde. Wir werden an keinen Übungen teilnehmen, die die Neutralität tangieren. Jede einzelne Übung wird vom Bundesrat bewilligt und vor jeder Übung wird geprüft, ob sie mit der Neutralität zu vereinbaren ist.
Die Schweizer Armee engagiert sich auch in der Friedensförderung: im Kosovo, in Bosnien, im Nahen Osten und in Südkorea. Was könnten Schweizer Soldaten im ukrainisch-russischen Grenzgebiet machen?
Die Frage ist hypothetisch, weil wir noch gar nicht wissen, wie sich die Situation zwischen der Ukraine und Russland weiterentwickelt. Letztlich haben Bundesrat und Parlament darüber zu entscheiden.
Als Armeechef müssen Sie aber sämtliche Szenarien mitdenken und vorbereiten. Welches Szenario wäre für die Schweiz denkbar?
Wir müssen zwischen Peace-enforcement-Einsätzen und Peacekeeping-Einsätzen unterscheiden. Peace-enforcement bedeutet: Frieden soll mit Waffen erzwungen werden. Da macht die Schweiz nicht mit. Peacekeeping setzt voraus, dass sich Russland und die Ukraine darauf einigen, die Kriegshandlungen einzustellen, und zustimmen, dass die Uno eine Friedenstruppe schickt, um den Frieden zu sichern. Das kann verschiedene Aufgaben bedeuten.
An was denken Sie da?
Im Kosovo spüren Schweizer Armeeangehörige zum Beispiel den Puls der Bevölkerung. Es gibt auf dem Golan im Nahen Osten Einsätze, wo Truppen mit Schweizer Militärbeobachtern die Grenzabschnitte überwachen. Im Bereich Logistik und Sanität ist die Schweizer Armee gut aufgestellt. Es gibt ein Spektrum dessen, was denkbar wäre. Die Frage ist, was die Uno braucht – und was Bundesrat und Parlament beschliessen. Aber nochmals: Das sind hypothetische Fragen. Es gibt noch keinen Frieden, und es liegt kein Gesuch der Uno vor.
Schweizer Armeeangehörige, die sich im Kosovo engagieren wollen, stehen nicht gerade Schlange. Was wäre mit Blick auf die Ukraine realistisch?
Wenn wir den Auftrag erhalten, uns an einer Mission zu beteiligen, würden wir ein Ausbildungskonzept entwerfen, um unsere Milizangehörigen zu trainieren und auf den Einsatz vorzubereiten. Dann würden wir mit der Rekrutierung beginnen und die Armeeangehörigen trainieren. Wir könnten in neun bis zwölf Monaten voraussichtlich rund 200 Soldaten stellen.
Müssten die auch schiessen oder nur beobachten?
Im Peacekeeping wie zum Beispiel im Kosovo ist der Einsatz der Waffe nur in einer Notwehrsituation erlaubt. Das Mandat beschliessen Bundesrat und Parlament.
Könnten Sie Schweizer Soldaten aus dem Kosovo oder Bosnien abziehen und ins ukrainisch-russische Grenzgebiet verlagern?
Nein, die Verpflichtungen im Kosovo bestehen weiter. Es müssten also zusätzliche Kräfte sein. Aktuell ist es so: Die Schweizer Soldatinnen und Soldaten gehen für sechs Monate in den Kosovo oder nach Bosnien, dann gibt es eine Rotation. Das könnte in der Ukraine ähnlich funktionieren – wenn die Politik das will.
Sie erhalten im März einen neuen Chef: Markus Ritter und Martin Pfister wollen Nachfolger von VBS-Chefin Viola Amherd werden. Haben die sich schon bei Ihnen gemeldet, seit sie im Wahlkampf sind?
Selbstverständlich nicht! Es ist nicht vorgesehen, dass sich jemand beim Armeechef meldet.
Markus Ritter hat sich sehr darüber geärgert, dass seine Söhne nicht zur Armee durften – obwohl sie aus seiner Sicht topfit sind. Fürchten Sie ihn als VBS-Chef?
Nein. Wer auch immer neuer VBS-Vorsteher wird, wird hierherkommen, sich alles anschauen und sehen, vor welchen Herausforderungen die Armee steht. Ich mache meinen Dienst für die Armee und für das Land. Wer dem VBS vorsteht, den fürchte ich nicht.