Das bekam Europa noch nie von einem amerikanischen Vizepräsidenten zu hören: «Die Bedrohung, über die ich mir am meisten Sorgen mache, ist nicht Russland, nicht China, nicht irgendein anderer externer Akteur. Worüber ich mir Sorgen mache, ist die Bedrohung von innen: der Rückzug Europas von einigen seiner grundlegendsten Werte, die es mit den Vereinigten Staaten von Amerika teilt», giftete US-Vizepräsident J. D. Vance (40) am Freitag an der Münchner Sicherheitskonferenz. Seine Ansage: Die Europäer müssten mehr auf ihre Bürger hören. Ohne die AfD beim Namen zu nennen, sagte er: «Es gibt keinen Platz für Brandmauern.» Später traf sich Vance nicht mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz (66), sondern mit der AfD-Kanzlerkandidatin Alice Weidel (46). Ein Verstoss gegen diplomatische Konventionen.
Unter Vances Zuhörerinnen im Bayerischen Hof, wo die Münchner Sicherheitskonferenz tagt, befand sich die Schweizer Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter (61). Später gab sie der Westschweizer Zeitung «Le Temps» ein Interview. Wörtlich sagte Keller-Sutter auf die Frage, wie sie Vances Rede gefunden habe: «Es war eine sehr liberale Rede. Er war in gewisser Weise sehr schweizerisch, als er sagte, man müsse der Bevölkerung zuhören.» Laut Keller-Sutters Sprecher Pascal Hollenstein hat sich die Bundespräsidentin ausschliesslich auf den Aspekt der Meinungsäusserungsfreiheit und der demokratischen Teilhabe in Vances Rede bezogen – dies werde aus dem Original-Interview klar. «An der Haltung der Schweiz ändert sich nichts. Es ist gut, dass die USA und Russland miteinander sprechen. Aber um einen gerechten und dauerhaften Frieden zu haben, muss man Europa und die Ukraine einbeziehen.»
Trotzdem gibt es Kritik an Keller-Sutters Aussagen. «Die libertäre Brandrede von Vance war voller Fake News», so Grünen-Chefin Lisa Mazzone (37). «Vance sieht in Europa das Problem und nicht in Putin. Vance versucht, rechtsstaatliche Prinzipien auszuhebeln. Es ist gefährlich, wenn sich die Schweiz so Trump anbiedert.» Mitte-Präsident Gerhard Pfister (62) schrieb auf dem Kurznachrichtendienst X: «Bei allem Respekt für die Bundespräsidentin: In der Rede des US-Vizepräsidenten kann ich nicht viel echt Liberales erkennen. In den USA gibt es weder direkte Demokratie noch Koalitionsregierungen.»
«Wenig Interesse an der liberalen Philosophie»
Auch Pascal Couchepin (82, FDP) geht auf Distanz zu seiner Parteikollegin: «Karin Keller-Sutter ist eine hervorragende Bundesrätin, sie hat aber wenig Interesse an der liberalen Philosophie», hält der alt Bundesrat im Gespräch mit SonntagsBlick fest: «In einer Demokratie hat man Gegner, aber keinen Feind im Inneren, wie der amerikanische Vizepräsident behauptet.»
Couchepin hält eine weitere Lektion für seine Parteikollegin bereit: «Liberalismus ist mehr als eine Wirtschaftsdoktrin. Liberalismus denkt langfristig, schätzt den Wert von Institutionen, wirft nicht von heute auf morgen alles über den Haufen oder droht mit Zöllen. Ich sehe in Washington aktuell keine liberale Haltung, sondern eine Facette von Amerika mit imperialistischen Zügen.»
In den Niederungen der geopolitischen Realität
Im Jahr nach der Bürgenstock-Konferenz und nach zwei Jahren im Uno-Sicherheitsrat scheint die Schweiz unversehens in den Niederungen der geopolitischen Realität gelandet zu sein – in der Bern aktuell keine Rolle spielt. Mehr noch: Die Hoffnung, Trump werde die Schweiz bevorzugt behandeln, hat sich bislang nicht erfüllt. Ende Januar wurde bekannt: Washington sieht in der Schweiz keinen verbündeten Staat, deswegen darf die Schweiz nicht mehr auf US-Computerchips für Projekte der künstlichen Intelligenz zugreifen. Die Schocknachricht aus Washington hat der Bundesrat noch nicht verdaut.
Kommt hinzu: Trump, der sich von Politikern mit autokratischen und diktatorischen Neigungen angezogen fühlt, spricht lieber direkt mit dem russischen Machthaber Wladimir Putin, als sich mit langwierigen, hochkomplexen Friedensprozessen zu befassen – einem Gebiet, auf dem die Eidgenossenschaft seit vielen Jahrzehnten Expertin ist.
«Es wird weitere Konferenzen brauchen»
Wie weiter? Martin Dahinden (70), früherer Schweizer Botschafter in Washington, ist überzeugt: «Die Schweiz ist bereit, einen Beitrag zum Friedensprozess zu leisten, jedoch finden die Gespräche erst einmal in einem anderen Format statt, auf das sich Trump und Putin einigen müssen.» Dass Trump Riad und nicht Genf als Ort für ein Treffen mit Putin ins Spiel bringt, sieht Dahinden nicht als Niederlage für die Schweiz: «Trump will Israel und Saudi-Arabien annähern. Trump dürfte mit Riad etwas anderes bezwecken.» Auch rechnet Dahinden nicht damit, dass in Riad der Frieden vom Himmel fällt: «Es wird weitere Konferenzen und Formate brauchen.»
Von Aussenminister Ignazio Cassis (63) ist nichts zu hören. Alt Bundesrat Alain Berset (52) mahnt als Generalsekretär des Europarats: Ohne die Ukraine und Europa mit an Bord werde ein Frieden nie stabil sein.
Schweizer OSZE-Vorsitz 2026
Das Einzige, was gegenwärtig festzustehen scheint: Die Schweiz führt nächstes Jahr den Vorsitz in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Manche halten die Organisation für nutzlos – aber wenigstens bietet sie ein diplomatisches Format, in dem Europäer mit den Russen reden können. Und: Putin hat akzeptiert, dass die Schweiz nächstes Jahr den Vorsitz dieser Organisation übernimmt.
Vor einem Jahrzehnt war die Stimmung optimistischer, mitten in der Krimkrise spielten der damalige OSZE-Vorsitzende Didier Burkhalter (64) und die Schweizer Spitzendiplomatin Heidi Tagliavini (75) als Sondergesandte eine wichtige Rolle. Welche Rolle die Schweiz bis 2026 spielen will, ist völlig unklar – der Bundesrat scheint keinen Plan zu haben.