Auf einen Blick
Eine überraschende Rede hielt US-Vizepräsident J.D. Vance (40) am Freitag an der Münchner Sicherheitskonferenz. Er sprach kaum über Rüstung, kaum über die Ukraine, den Gazastreifen oder mögliche Gefahren aus China.
Die grösste Gefahr drohe nicht von Aussen, sondern aus dem Innern. Denn Europa habe seine fundamentalen Werte vernachlässigt. «Wir müssen mehr tun, als über demokratische Werte zu reden. Wir müssen sie leben», forderte Vance.
Blick erklärt die fünf wichtigsten Punkte, die Vance an Europa kritisiert – und ordnet ein.
Vance geisselt politische Zensur
In Europa sei die Meinungsfreiheit auf dem Rückzug, erklärte Vance. In Deutschland würden Razzien gegen Bürger durchgeführt, die verdächtigt werden, online frauenfeindliche Kommentare veröffentlicht zu haben. In Grossbritannien würden Menschen juristisch verfolgt, die in der Nähe von Abtreibungskliniken beteten. Diese Art der Zensur erinnere ihn an die kommunistischen Regimes der Sowjet-Zeit, erklärte Vance.
Seine Beispiele waren natürlich plakativ gewählt. Tatsächlich war in den letzten Jahren aber eine gewisse Einschränkung der öffentlich akzeptierten Meinungen festzustellen. In den USA hat mit der Wahl von Donald Trump hier eine Kehrtwende eingesetzt. Und die Trump-Regierung versucht nun offensichtlich, diesen Wandel weltweit voranzutreiben.
Vance will Brandmauern einreissen
In einer Demokratie, so sagte Vance, gebe es keinen Platz für Brandmauern. Unliebsame Ansichten dürften nicht einfach ausgeschlossen werden. Keine Demokratie werde es überleben, wenn man Millionen von Wählern sage, dass ihre Gedanken und Sorgen ungültig seien. «Die Demokratie beruht auf dem heiligen Grundsatz, dass die Stimme des Volkes zählt», sagte Vance. Entweder man halte sich an das Prinzip oder nicht.
Diese Aussagen sind – zehn Tagen vor der Bundestagswahl – in Deutschland starker Tobak. Natürlich dürfen Politiker in Deutschland selber entscheiden, ob sie mit der AfD eine Regierung bilden wollen oder nicht. Auf lange Frist jedoch erscheint auch aus Schweizer Sicht der totale Ausschluss einer grossen Partei kaum durchzuhalten. Denn je länger gewisse Anliegen nicht gehört werden, umso mehr staut sich Unmut an.
Vance kritisiert Masseneinwanderung
Bei keinem anderen Thema hätten die Politiker in Europa so stark an ihren Bevölkerungen vorbeiregiert wie bei der Migration, erklärte Vance in München – einen Tag nach dem Anschlag vom Donnerstag. Kein Wähler auf diesem Kontinent sei je zur Wahlurne gegangen, um die Schleusen für Millionen ungeprüfter Einwanderer zu öffnen. «Die Menschen sorgen sich um ihr Zuhause. Sie sorgen sich um ihre Träume. Sie sorgen sich um ihre Sicherheit und ihre Fähigkeit, für sich und ihre Kinder zu sorgen», sagte Vance.
Hier traf Vance einen wunden Punkt: In Deutschland wurde das Thema der Migration in den letzten Jahren aus moralischen Gründen oft wenig kontrovers diskutiert. Das hat sich in den letzten Wochen – leider im Zuge von brutalen Gewalttaten – bereits stark geändert.
Vance hinterfragt Wahl-Absage in Rumänien
Der US-Vizepräsident kritisierte scharf, dass die Präsidentschaftswahl vom November in Rumänien leichtfertig annulliert worden sei. Dies, nachdem der russlandfreundliche Kandidat Calin Georgescu (62) die meisten Stimmen gewonnen hatte. Russische Desinformation, so die Begründung, habe die Wahlen infiziert.
Man könne zu Recht verurteilen, wenn Russland Werbung in den sozialen Medien kaufe, um Wahlen zu beeinflussen. «Aber wenn Ihre Demokratie mit ein paar Hunderttausend Dollar für digitale Werbung aus dem Ausland zerstört werden kann, dann war sie von Anfang an nicht sehr stark», sagte Vance.
Der Umgang mit politischer Propaganda im Netz und dem Einfluss ausländischer Akteure ist tatsächlich noch eine Baustelle. Hier überlagern sich mehrere Probleme. Es geht um technische, finanzielle und ideologische Fragen. Jedoch zeigt der Tiktok-Zwangsverkauf, den das US-Parlament beschlossen hat, dass es auch in den USA verbreitete Angst vor Einflussnahme im Internet gibt.
Ironisch sprach Vance hier die Kritik an der Wahl-Einmischung von Präsidentenberater Elon Musk (53) an. «Wenn die amerikanische Demokratie 10 Jahre Greta Thunbergs Schelte überleben kann, dann könnt ihr auch ein paar Monate Elon Musk überleben», rief er den Europäern zu.
Vance stellt Identitätskrise fest
Europa wisse nicht mehr, wofür es kämpfe, behauptete Vance. Zwar sei bekannt, wogegen sich der Kontinent stelle. «Was ist die positive Vision?», frage er. «Wenn Sie Angst vor Ihren eigenen Wählern haben, kann Amerika nichts für Sie tun.»
An die Demokratie zu glauben, bedeute zu verstehen, dass jeder Bürger Weisheit besitze und eine Stimme habe. «Wenn wir uns weigern, auf diese Stimme zu hören, werden selbst unsere erfolgreichsten Kämpfe nur sehr wenig bringen.»
Dass jedoch gerade in Deutschland gegenüber einer «schrankenlosen» Demokratie auch Vorbehalte bestehen, ist verständlich. War es doch hier, wo Hitlers NSDAP in freien Wahlen zur stärksten Kraft wurde – und schliesslich die Demokratie abwürgte.
Vance lieferte eine teils einseitige, aber leidenschaftliche Rede über seine Sicht der Demokratie ab. Er machte klar, wie stark sich hier die Sicht der neuen amerikanischen Regierung abhebt. Jedoch war nicht jeder Gedankenanstoss so tiefgründig, wie es Bestsellerautor Vance wohl gerne gehabt hätte.