Auf einen Blick
- SP fordert 38-Stunden-Woche als Gegenvorschlag zur Service-Citoyen-Initiative
- Kürzere Arbeitszeit soll gesellschaftliches Engagement und Care-Arbeit fördern
- Zwei Drittel der Schweizer finden, dass zu viel gearbeitet wird
Die Schweiz soll weniger arbeiten bei gleichbleibendem Lohn: Die SP will die wöchentliche Höchstarbeitszeit von heute 45 Stunden auf 38 Stunden verkürzen, verteilt auf maximal viereinhalb Arbeitstage. Ziel der radikalen Forderung: mehr Zeit für gesellschaftliches Engagement, Erholung und Care-Arbeit.
Die 38-Stunden-Woche bringen die Sozialdemokraten am 24. Februar in der Sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrats ein – als indirekten Gegenvorschlag zur Service-Citoyen-Initiative. Diese verlangt einen Dienst für die Allgemeinheit und die Umwelt, den alle Schweizerinnen und Schweizer leisten müssen.
Gegen obligatorischen Bürgerdienst
Der Bundesrat lehnt die Initiative ohne Gegenvorschlag ab, kürzlich stellte sich die Landesregierung auch gegen den Vorschlag der abtretenden Verteidigungsministerin Viola Amherd (62), die Dienstpflicht auf die Frauen auszuweiten. Auch die SP lehnt die Dienstpflicht für alle, wie sie die Service-Citoyen-Initiative vorsieht, ab und setzt auf Freiwilligkeit. «Viele würden gerne mehr zur Gesellschaft beitragen, wenn sie die Zeit dafür finden würden», sagt die Berner SP-Nationalrätin Andrea Zryd (49).
Zryd ist Athletiktrainerin und Sportlehrerin. Sie begegne dem Problem der grossen beruflichen Belastung im Sport ständig, sagt sie; beispielsweise dann, wenn Vereinen wieder einmal ehrenamtliche Trainerinnen und Trainer fehlten. «In den nordischen Ländern mit kürzerer Arbeitszeit finden Sportklubs viel einfacher Freiwillige.» Die 38-Stunden-Woche würde laut der SP den sozialen Zusammenhalt fördern und den Bedürfnissen der modernen Gesellschaft Rechnung tragen.
Zwei Drittel finden, dass sie zu viel arbeiten
Die Mehrheit der Bevölkerung in der Schweiz ist der Ansicht, dass die Arbeit zu viel Raum einnimmt. In der repräsentativen «Teilzeit-Studie» des Instituts Sotomo gaben 2023 gut zwei Drittel der Befragten an, dass wir zu viel arbeiten. Und der internationale Vergleich zeigt, dass Schweizerinnen und Schweizer echte Chrampfer sind.
Mit einer wöchentlichen Arbeitszeit der Vollzeitarbeitnehmenden von gut 40 Stunden schwang die Schweiz 2023 deutlich obenauf. Allerdings zeigt auch bei uns der Trend nach unten: Die Arbeitszeit der Vollzeitbeschäftigten ist im Fünf-Jahres-Vergleich um 46 Minuten gesunken. Und: Die Schweiz liegt auch ganz vorne, wenn es um Teilzeitarbeit geht, viele haben sich also bereits selbst eine Drei- oder Vier-Tage-Woche verordnet, verzichten dabei aber auf Lohn.
Mit der Forderung nach einer besseren Work-Life-Balance trifft die SP unter der Co-Leitung von Mattea Meyer (37) und Cédric Wermuth (38) einen gesellschaftlichen Nerv. Das bekam zuletzt auch die Mitte-Partei bei der Suche nach einer Nachfolge für Bundesrätin Viola Amherd zu spüren. Gleich mehrere aussichtsreiche Kandidaten gaben der Familie den Vorrang. Markus Ritter (57), Favorit für die Amherd-Nachfolge, sagte in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger»: «Ich bin überzeugt, im Bundesrat musst du 60, 70, 80 Stunden arbeiten und präsent sein, anders geht es nicht.»
Finanzierbarkeit ist schleierhaft
Für die meisten Arbeitstätigen sehen die Prioritäten anders aus. Nicht nur in Ländern wie Island ist die Vier-Tage-Woche auf dem Vormarsch. Ein Blick in Stellenportale zeigt, dass das Modell längst auch in der Schweiz angekommen ist, vor allem in handwerklichen Berufen mit grossem Fachkräftemangel.
Auch in der öffentlichen Verwaltung werden alternative Arbeitsmodelle vermehrt zum Thema. Die Stadt Genf gewährt ihren Angestellten bereits eine 39-Stunden-Woche, im Kanton Basel-Stadt ist die Einführung der 38-Stunden-Woche haarscharf gescheitert. «Die Entwicklung zeigt, dass es funktioniert», sagt Andrea Zryd. «Wir dürfen nicht an der Bevölkerung vorbeipolitisieren.»
Nur: Wie eine aus Bundesbern gesetzlich verordnete Kürzung der Arbeitszeit finanzierbar wäre, ist schleierhaft. So rechnete die Basler Kantonsregierung bei einer Reduktion der Arbeitszeit für die Angestellten der Verwaltung von 42 auf 38 Stunden mit zusätzlichen Kosten von 150 Millionen Franken, da etliche neue Stellen geschaffen werden müssten.
Ähnlich ist die Stimmungslage in der Privatwirtschaft. Vor allem in Berufen, die Präsenz oder Ladenöffnungszeiten voraussetzen, ist ein Modell wie die Vier-Tage-Woche ohne massive Mehrkosten nicht umsetzbar. Und wenn doch, bedeutet eine kürzere Arbeitszeit, dass die Angestellten dieselbe Leistung in kürzerer Zeit erbringen müssten.
Entsprechend schwer haben es radikale Forderungen nach einer kürzeren Arbeitszeit für alle. Letztmals scheiterte SP-Nationalrätin Tamara Funiciello (34) vor zwei Jahren mit einer Motion für eine 35-Stunden-Woche. Der Bundesrat fürchtete damals um den Wohlstand in der Schweiz.
Zryd weiss, dass es der indirekte Gegenvorschlag zur Service-Citoyen-Initiative nicht einfacher haben wird. Sie sieht die Forderung als ersten Schritt. «Wir wollen etwas anstossen, denn so wie bisher kann es nicht weitergehen.»