Bei den Vorwürfen der mutmasslichen Opfer von Modelagentur-Chef James N.* (33) kristallisiert sich ein wichtiges Thema heraus: Machtgefälle. Dieser Umstand sorgt dafür, dass jemand eine von ihm eher abhängige Person schneller ausnützen kann.
«Machtgefälle sind ein grosser Risikofaktor, dass es zur Anwendung sexueller Gewalt durch den ‹Mächtigeren› kommt», sagt Christoph Erdös (57), Gründer und Stiftungsratspräsident der Opferberatung Zürich. Sexuelle Gewalt gegen Männer komme häufig vor, die Dunkelziffer sei hoch. Grund dafür sei die hohe Schamgrenze bei Männern, über das Erlebte zu sprechen. «Das hat auch mit dem Männerbild in unserer Gesellschaft zu tun», meint er. Die Auswirkungen können verheerend sein. «Es kann von selbstgefährdendem Handeln bis zu Suizid führen, zu tiefen Depressionen oder dissoziativem Verhalten.»
Er versprach die grosse Karriere
So weit ging es teilweise auch bei A.Ö.** (22) aus Bern, der sagt, auf die Tricks von James N. reingefallen zu sein. «Er versprach mir den grossen Traum von der Modelkarriere, sagte mir aber immer wieder, ich sei nicht gut genug.» Deshalb sollte er dem Agenten immer wieder neue Bilder und Videos schicken, auf denen er in Unterwäsche erotisch posiere. «Das habe ich im März 2019 einen Monat lang getan, ohne es zu hinterfragen. Bis ich einer Freundin davon erzählte und sie mir die Augen öffnete. Sie meinte, dass das überhaupt nicht gehe und er nur seine Gelüste stillen wolle.» A.Ö. stand vor einem Scherbenhaufen: «Ich hatte mein Studium abgebrochen, und das mit dem Modeln konnte ich auch vergessen.» Zudem sei die Scham gross gewesen, über das Erlebte zu sprechen. «Ich bekam Depressionen, dachte sogar an Suizid und musste in Therapie», sagt der Berner bewegt. Der Anwalt von James N. verweist auf die Unschuldsvermutung.
Für Florian Vock (30), Präventionsexperte Aids-Hilfe Schweiz, zeigt das Geschilderte eine typische Vorgehensweise: «Bei sexueller Gewalt geht es um Macht. Diese wird eingesetzt, um seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.» Dabei zieht er Parallelen zum Skandal um den verstorbenen US-Unternehmer Jeffrey Epstein (1953–2019). «Er verspricht die grosse Karriere, lädt zu Partys ein und drängt die Opfer dann in die Ecke.» So ein Fall könne auch an Hochschulen oder in Unternehmen passieren. «Überall dort, wo Systeme und Strukturen sehr hierarchisch sind und die Karriere von einzelnen Vorgesetzten abhängt, kommt das immer wieder vor. Wenn auch noch das Umfeld eine solche Verhaltensweise toleriert, bleibt ein Täter unbescholten.»
Hinzu komme bei den Vorwürfen zu James N., dass in der Modeszene der Körper das A und O sei. «So kann man einem Model schnell verkaufen, dass die Berührungen normal sind. Das auszunutzen, ist unethisch und oft strafbar.»
Opferberatungsstellen oft besser als direkter Gang zur Polizei
Opfern sexueller Belästigung, sexueller Nötigung und sexueller Gewalt rät Vock, sich bei einer kantonalen Opferberatungsstelle zu melden. «Sie sind vertraut mit dem Thema und können rechtliche Möglichkeiten abwägen – anonym und kostenlos. Bei der Polizei ist das nicht möglich.» Zudem rät Vock, schon aus solidarischen Gründen eine Anzeige zu machen. «Allein, um ein Zeichen zu setzen. Je mehr sich in einem Fall melden, desto besser.»
Im Notfall: Polizei, Tel. 117
Die dargebotene Hand, Tel. 143
Im Notfall: Polizei, Tel. 117
Die dargebotene Hand, Tel. 143
Christoph Erdös rechnet den oft heruntergespielten Wirkungsgrad einer Anzeige aus: «Je klarer, detaillierter und unmittelbarer die Anzeige und die Aussagen des Opfers erfolgen, desto grösser sind die Chancen. Ich habe schon viele Verurteilungen erlebt. Die Justiz kennt die Problematik und ist durchaus bereit, ihren Teil zur Verbesserung der Situation beizutragen.»
* Name geändert
** Name der Redaktion bekannt
Einsamkeit muss nicht sein: Das Schweizerische Rotes Kreuz (SRK) hat einen Besuchs- und Begleitdienst für allein lebende Menschen. Der Dienst wird regional von den Rotkreuz-Kantonalverbänden organisiert (www.redcross.ch). Auch die Heilsarmee bietet Aktivitäten für Alleinstehende, etwa Mittagstische (www.heilsarmee.ch). Senioren können bei der Pro Senectute (www.prosenectute.ch) nachfragen. Beratung gibt es auch bei den Landeskirchen (Seelsorge.net). Die Dargebotene Hand, Tel. 143 (www.143.ch), kann ebenfalls weiterhelfen. Jugendliche finden unter der Notrufnummer 147 (www.147.ch) bei Pro Juventute Hilfe.
Einsamkeit muss nicht sein: Das Schweizerische Rotes Kreuz (SRK) hat einen Besuchs- und Begleitdienst für allein lebende Menschen. Der Dienst wird regional von den Rotkreuz-Kantonalverbänden organisiert (www.redcross.ch). Auch die Heilsarmee bietet Aktivitäten für Alleinstehende, etwa Mittagstische (www.heilsarmee.ch). Senioren können bei der Pro Senectute (www.prosenectute.ch) nachfragen. Beratung gibt es auch bei den Landeskirchen (Seelsorge.net). Die Dargebotene Hand, Tel. 143 (www.143.ch), kann ebenfalls weiterhelfen. Jugendliche finden unter der Notrufnummer 147 (www.147.ch) bei Pro Juventute Hilfe.