«Welcome to the Show.» Als Nemo (24) die ersten Zeilen von «The Code» singt, fühlt es sich fast ein bisschen an wie am Eurovision Song Contest. Auch wenn man sich – noch – nicht am grössten Musikspektakel Europas befindet, sondern im Garten der schwedischen Botschaft in Bern. Gründe für die rauschende ESC-Party, zu der geladen wurde, gibt es mehrere: Erstens ist es genau 50 Jahre her, seit die schwedische Gruppe Abba an eben jenem Anlass ihren Weg zur Kultband antrat. Zweitens findet der diesjährige Contest ab dem 6. Mai im südschwedischen Malmö statt. Und drittens geht die Schweiz erstmals in der Geschichte des Wettstreits als klare Favoritin ins Rennen: Unfassbare 25 Prozent beträgt laut Wettquoten Nemos Chance auf den Sieg! Ein Novum für unser Land.
Wer hats erfunden?
In den 68 Jahren seiner Existenz erlebt der Eurovision Song Contest wohl mit kaum einer Nation so viele Höhen und Tiefen wie mit seinem Herkunftsland. 1955 trägt Marcel Bezençon, SRG-Generaldirektor und Vorsitzender der Programmkommission der Europäischen Rundfunkunion EBU (mit Sitz in Genf), eben jener Kommission die Idee eines europäischen Musikwettbewerbs vor. Die erste Veranstaltung findet 1956 unter dem Namen «Grand Prix Eurovision de la Chanson Européenne» in Lugano mit 14 Teilnehmerländern statt. Siegerin: die Schweizerin Lys Assia (1924 - 2018).
Während sich der Name der Veranstaltung zweimal ändert – zuerst zu «Concours Eurovision de la Chanson», dann zu «Eurovision Song Contest» – und die Regeln immer wieder angepasst werden, steigt sowohl die Zahl der Teilnehmerländer als auch diejenige der Zuschauenden. So sind vergangenes Jahr im britischen Liverpool 26 Nationen am Start. 162 Millionen Menschen verfolgen das Spektakel in 38 Ländern live am TV-Bildschirm, zwei Millionen davon in der Schweiz (zum Vergleich: eine «Tagesschau»-Sendung erreicht durchschnittlich etwa 580'000 Zuschauende).
Der ESC und die Schweiz: Eine Hassliebe
Eine gigantische musikalische Welle, die da Jahr für Jahr durch Europa schwappt – und darüber hinaus. Denn für eine Teilnahme (die übrigens nicht obligatorisch ist) muss ein Land nicht zwingend geografisch in Europa liegen, sondern lediglich Mitglied der EBU sein. So nimmt zum Beispiel Australien, wo der ESC seit 1983 ebenfalls gezeigt wird, seit 2015 am Contest teil.
Die Schweiz entwickelt über die Jahre eine Hassliebe zu dieser Musikwelle. Mal schwimmt sie obenauf, mal hält sie sich knapp über Wasser, mal geht sie gnadenlos unter. Neunmal landen wir auf dem letzten Platz, viermal davon mit null Punkten. Nur gerade viermal haben wirs seit der Einführung des Halbfinals im Jahr 2004 in den Final geschafft, bevor Luca Hänni 2019 diesen Fluch bricht – nach ihm ziehen auch Gjon's Tears, Marius Bear und Remo Forrer in den Final ein.
Mit elf Schlappen sind wir zusammen mit Lettland die Nation, die am häufigsten ausgeschieden ist. Auf unser Konto gehen aber auch zwei Siege, drei zweite Plätze und vier dritte. Und: Mega-Star Céline Dion (56) verdankt ihren Höhenflug zu einem guten Teil der Schweiz. Bevor die Kanadierin am ESC 1988 den Schweizer Beitrag zum Besten gibt, ist sie weitgehend unbekannt. «Ne partez pas sans moi» (aus der Feder von Nella Martinetti und Atilla Sereftug) ist der Beginn ihres Weltruhms.
Dieser Artikel wurde erstmals in der der «Schweizer Illustrierten» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.schweizer-illustrierte.ch.
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Einige Schweizer Karrieren starten ebenfalls am ESC: Paola Felix (73) oder Peter, Sue & Marc werden auch ausserhalb der Heimat zu Stars. «Ein fantastischer Karrierestart und Erinnerungen, die mich ein Leben lang begleiten», sagt Paola, die es zweimal in die Top Five schafft. Peter Reber (74) ist mit sechs Teilnahmen (viermal mit Peter, Sue & Marc, einmal als Songschreiber für Paola, einmal für Pepe Lienhard) Schweizer Rekordhalter. «Wie so viele andere Karrieren hätte es auch meine ohne den ESC so nicht gegeben», sagt er.
Das gilt auch für Sandra Studer (55), die 1991 als Sandra Simó den fünften Platz ersingt: «Mein Weg hat zwar eine andere Schlaufe genommen. Aber ich bin sicher, dass ich ohne die Erfahrung auf dieser Bühne nicht Moderatorin geworden wäre.» Dabei kann auch auf der ESC-Welle surfen, wer am Event selbst gar nicht viel reisst: Michael von der Heide (52) scheidet 2010 im Halbfinal aus – «aber mein Song wird seither täglich im Radio gespielt», sagt er.
In der schwedischen Botschaft gibt Nemo den «Code» noch mal in der Stube zum Besten. Stimmgewaltig und souverän. Wenns darum geht, wie sie in dieser Favoritenrolle gelandet ist, sucht die non-binäre Person (definiert sich nicht als weiblich oder männlich) nach Worten: «Hey, wenn ich das wüsste! Vielleicht kommen manchmal einfach viele Dinge im Leben zum richtigen Zeitpunkt zusammen, und alles macht Sinn. Es ist gerade ein richtig toller Moment, und ich geniesse ihn ganz fest.» Und klar, die Aufregung steigt täglich. «Vor Ort wird sie vermutlich explodieren», meint Nemo und «gigelet» vor sich hin.
Aber Aufregung hin, Druck her: «Ich habe vor, dieses Ding zu rocken!» Wie heisst es doch am Anfang von «The Code»: «Willkommen zur Show, alle sollen wissen: Ich habe fertig gespielt. Jetzt sprenge ich die Fesseln.» Switzerland – 12 Points?
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