Auf einen Blick
- «Sancta»-Inszenierung sorgt für Morddrohungen und Sicherheitsvorkehrungen
- Regisseurin Florentina Holzinger inszeniert das Stück gewagt mit nackter Haut
- 200 Meter lange Schlange vor der Stuttgarter Staatsoper
- 50-köpfige Gruppe von christlichen Fundamentalisten protestiert gegen die Aufführung
- Kunst-, Meinungs- und Glaubensfreiheit seien unser höchstes Gut, sagt Besucherin Nadia
Um kurz vor 17 Uhr spielt sich in Stuttgart (D) ein Drama ab: Der VfB-Stuttgart-Spieler Jeff Chabot (26) muss mit Gelb-Rot vom Platz. Seine Mannschaft gewinnt dennoch mit 2:1 gegen Holstein Kiel. Etwa vier Kilometer Luftlinie von der MHP-Arena entfernt steht die Staatsoper. Hier soll zwei Stunden später zum wiederholten Male «Sancta» aufgeführt werden – ein Stück des deutschen Komponisten Paul Hindemith (1895–1963), das bereits in den 1920er-Jahren für Aufruhr sorgte und vor drei Wochen bei seiner Neuinszenierung durch Florentina Holzinger (38) sogar die Ambulanz auf den Plan rief.
Seither sehen sich Regisseurin und Ensemble Morddrohungen ausgesetzt, sogar von einer Absage ist die Rede. Das Sicherheitsdispositiv rund um die Oper werde massiv erhöht, schreiben lokale Medien. Zu sehen ist davon gegen 17 Uhr noch nicht viel, als Blick sich ein Bild von der Situation macht.
Morddrohungen und Aufmarsch
Der Hintergrund: «Sancta» verbindet die Frömmigkeit einer Nonne mit der Ekstase der Leiblichkeit, Regisseurin Holzinger – dafür ist sie schon im Vorhinein bekannt – inszeniert das Stück gewagt: mit nackter Haut, mit Blut – aber genauso viel Witz und Selbstironie. Die Zürcher Darstellerin Annina Machaz wird im deutschen Boulevard als «Nackt-Jesus» betitelt.
Und obwohl sie – wie sie gegenüber Blick bestätigt – sogar von pastoraler Seite viel Zuspruch für ihre Rolle als Sohn Gottes, der der Menschheit in ihrem Part als eine Art «Coach» beisteht, bekommen hat, beginnen fundamentalistische Kreise in den Wochen nach dem 5. Oktober ihre persönliche Hetzjagd gegen das Stuttgarter Ensemble. Zuerst nur virtuell. Heute auch ganz persönlich.
«Wir Schwaben sind doch eigentlich ganz weltoffen!»
Wir wären bei der heutigen Aufführung gerne dabei gewesen, aufgrund der aktuellen Sicherheitslage versuche man nun aber, mediale Berichterstattung einzuschränken. Nicht mal eine Stunde, nachdem der VfB Stuttgart sein Spiel gegen Holstein Kiel gewonnen hat, sieht die Situation vor der Stuttgarter Staatsoper ganz anders aus. Vor einem einzigen Eingang hat sich eine etwa 200 Meter lange Schlange gebildet, die sich noch Hoffnung auf Restkarten macht – die wird es nicht geben.
«Seitdem ‹Sancta› sogar seinen Weg in die argentinische Presse gefunden hat, ist es unmöglich, an Karten zu kommen», erzählt uns die Stuttgarterin Karin. «Ich habe noch vor dem ganzen Hype eine Karte bekommen – und werde sicher nicht rauslaufen.» Sowieso könne sie diesen Aufruhr nicht verstehen – zumal das Stück bei seinen Aufführungen in Schwerin (D) oder Wien (A) nicht so sehr angeeckt habe: «Wir Schwaben sind doch eigentlich ganz weltoffen!» Nach einigen Minuten hat sich eine ältere Frau zu uns gesellt, auf ihrem Velo prangen «Free Palestine»- und «Free Tibet»-Aufkleber: «Ich habe gehört, die AfD will hier auch noch aufmarschieren.» Von der rechtspopulistischen Partei ist an diesem Abend – zumindest im organisierten Sinne – nichts zu sehen.
«Das ist totaler Schwachsinn»
Beim Bühneneingang hat sich mittlerweile aber eine andere Gruppe in Position gebracht: die TFP, eine christliche Vereinigung, deren Lettern für «Tradition, Familie und Privateigentum» stehen. Die etwa 50-köpfige Gruppe ist bunt gemischt, auffallend sind bei den jüngeren Mitgliedern Anzüge und rote Schärpe, jemand spielt Dudelsack, im hinteren Teil des Zuges beten zwei Frauen der Rosenkranz. Der Dudelsackspieler möchte nicht mit Blick sprechen, verweist auf den Vorsitzenden der TFP Mathias von Gersdorff (60), der sich öffentlich gegen Abtreibung und gleichgeschlechtliche Ehe einsetzt und schon bei der rechtsextremen Zeitschrift «Junge Freiheit» publiziert hat. Die Szene wird von einem Kastenwagen begleitet – «ein grösseres Aufgebot» ist laut den beiden anwesenden Polizisten nicht nötig.
Von Gersdorff ist zwar anwesend, wird aber von einer Traube von Mitgliedern der TFP abgeschirmt. Ein junger Mann, der seinen Namen nicht nennen will, erklärt sich endlich bereit, mit uns zu sprechen. «Bei ‹Sancta› handelt es sich eindeutig um eine Oper, die Hass gegen Christen schüren soll», erklärt er. Selbst gesehen habe er das Stück nicht. «Wir haben aber Leute, die das getan haben. Die Leute sollen realisieren, dass Hass gegen Christen in Deutschland eine Realität ist.» Will er mit der TFP die Oper stören? Immerhin spielt alle paar Minuten laut ein Dudelsack auf. «Nein, das ist totaler Schwachsinn.»
Mit Namen und Gesicht steht Nadia für ein Gespräch bereit – die junge Frau hält dem Zug der TPF ein Banner mit der Aufschrift «Ja zur Kunstfreiheit» entgegen. «Ich find es entsetzlich», sagt sie fast ungläubig ob der Szenen ihr gegenüber. «Die Kunst-, Meinungs- und Glaubensfreiheit sind unser höchstes Gut.» In «Sancta» könne man all das gut trennen. «Es geht nicht gegen die Gläubigen!» Auch Nadia fragt sich, wieso Florina Holzingers Stück gerade in Stuttgart dermassen für Kritik sorge.
Standing Ovations
Nach dem fast dreistündigen Stück ist die Stimmung gelöst – «genau das ist Kunst» und «anecken» hören wir immer wieder. Zwei Opern-Aficionadas, Caro und Anja, kommen gar nicht mehr aus dem Schwärmen: «Das Publikum war begeistert.» In Stuttgart seien die Leute nun einmal 60 plus – so erklären sich die beiden Opern-Fans den medialen Shitstorm. Und heute? «Alle sind super mitgegangen!» Zwischentöne habe es keine gegeben – bloss zu Beginn sei ein Besucher mit Zwischenrufen aufgefallen. Er musste den Saal sofort verlassen.
Die Stuttgarter hätten die heutige Aufführung von «Sancta» mit Standing Ovations quittiert – am Sonntag folgt die Probe aufs Exempel. Danach zieht Holzingers Stück nach Berlin. Zu einem Publikum, das womöglich etwas Skandal-resistenter ist.
Übrigens: «Sancta» kehrt im kommenden Jahr nach Stuttgart zurück. «Wir werden ‹Sancta› in der nächsten Spielzeit wieder aufnehmen. Das war schon lange geplant, dass die Oper ins Repertoire übergehen soll. Die Oper kommt im Herbst 2025 nach Stuttgart zurück», sagte der Sprecher der Staatsoper, Sebastian Ebling, der Deutschen Presse-Agentur.