Herr Pinker, gibt es rationale Gründe, die gegen eine Impfung sprechen?
Nein, medizinisch gesehen ist es irrational, eine Covid-Impfung abzulehnen. Wenn es aber darum geht, seine Solidarität mit den eigenen politischen Gesinnungsgenossen zu bezeugen, kann es rational Sinn machen, sich lautstark gegen das Impfen zu äussern.
Wie meinen Sie das?
Menschen übernehmen gerne Argumente, die in ihrer gesellschaftlichen Blase populär sind – und als Kampfgebrüll gegen politische Gegner verwendet werden. Das gibt ihnen Halt und ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Ähnlich wie die Zugehörigkeit zu einer Religion oder der Glaube an patriotische Legenden.
Wissen Sie, wie die Schweiz gegründet wurde?
Tue ich nicht, nein.
Drei Stammesführer schworen sich auf einer Alpenwiese ewige Treue gegen fremde Mächte. So jedenfalls erzählt es der Gründungsmythos. Wieso glauben wir so etwas, selbst wenn Historiker nachgewiesen haben, dass dies für die Gründung der modernen Schweiz unerheblich war?
Wir Menschen hatten lange Zeit keine Möglichkeit zu überprüfen, ob Legenden wahr sind oder nicht – weil es keine Archive, keine Studien, keine Wissenschaft gab. Mythen waren also nicht verifizierbar – aber sie hatten einen mächtigen Effekt. Sie gaben einem Dorf, einem Stamm oder einem Land Zusammenhalt und liessen uns im Angesicht der Feinde stark erscheinen. Für dieses Denken sind wir noch heute sehr empfänglich – egal ob es wahr ist oder nicht.
Können Menschen also gleichzeitig rational und irrational sein?
Oh ja. Das ist eine der Hauptaussagen meines Buches. Obwohl wir zum Beispiel an patriotische Legenden glauben, bestreiten wir unser tägliches Leben dem Gesetz von Ursache und Wirkung folgend: Wir kaufen Nahrung, zahlen Rechnungen, bringen unsere Kinder zur Schule.
Woher kommt diese Schizophrenie?
Rationalität ist uns Menschen nicht angeboren. Wir kommen weder mit der Fähigkeit zur Welt, grosse Mengen von Daten zu analysieren, noch verstehen wir komplexe mathematische Regeln intuitiv. Wir müssen das alles erlernen und verinnerlichen.
Ich bin geimpft. Aber nicht weil ich sämtliche Studien dazu gelesen und verstanden habe, sondern weil ich ein Grundvertrauen in die Wissenschaft und den Staat habe. Ist das rational?
So geht es ja vielen Menschen. Vertrauen an sich ist nicht rational. Ihr Verhalten ist es aber insofern, als dass Sie wissen, dass die Wissenschaft eine eindrückliche Erfolgsbilanz in der Heilung von Menschen hat. Und darum ist Ihr Vertrauen in Institutionen rational, wenn sich diese das Vertrauen aufgrund ihrer Geschichte und ihrer Methoden verdient haben.
Sie schreiben, Menschen würden der Wissenschaft mehrheitlich trauen, nicht aber Universitäten und akademischen Institutionen. Wieso?
Weil Universitäten – zumindest in den USA – immer mehr zu ideologischen Monokulturen werden. Da wird eine Bibliothekarin gefeuert, weil sie Bücher ausstellt, in denen Blackfacing thematisiert wird. Sie veranstaltete eine Ausstellung über Rassismus und wird für Rassismus gefeuert. Jeder sollte den Unterschied verstehen.
In Ihrem Buch setzen Sie sich stark mit menschlichen Vorurteilen auseinander. Welches beeinflusst unser Verhalten während der Pandemie am stärksten?
Wir nennen es auf Englisch «Myside Bias», also die Tendenz, der Haltung der eigenen gesellschaftlichen Blase zu folgen. In den USA kommt der Widerstand gegen die Corona-Massnahmen und die Impfung praktisch ausschliesslich von der politischen Rechten. Was komisch ist, weil die Rechte historisch gesehen keine grossen Probleme mit Impfungen hatte – das waren eher grüne Kreise.
Politische Überzeugung formt also unsere Überzeugung, was rational und logisch ist?
Ja, und zwar bei Linken und Rechten, bei Intelligenten und weniger Intelligenten im gleichen Masse.
Sie haben vor der Pandemie mit der Arbeit für Ihr Buch begonnen. Hat Corona irgendetwas an Ihren Erkenntnissen verändert?
Nicht fundamental, aber gewisse Dinge haben sich verschoben. Ich hatte unterschätzt, wie stark die Überzeugung verankert ist, dass Krankheit von aussen in unsere Körper eingeführt wird. Für Menschen, die das glauben, sind Impfungen intuitiv gefährlich. Es macht sie empfänglich für Homöopathie, Entschlackung, Schröpfung – und all die anderen primitiven Methoden, um Dinge aus unserem Körper rauszusaugen.
Steven Pinker (67) stammt aus Montreal (Kanada). Er studierte Psychologie. 20 Jahre lehrte er am MIT in Boston, und seit 2003 ist er Professor für Psychologie in Harvard. Seine Forschungen beschäftigen sich mit Sprache und Denken. Das «Foreign Policy» zählt ihn zu den «100 globalen Intellektuellen» und das «Time Magazine» zu den aktuell «100 einflussreichsten Menschen». Pinker hat mehrere Besteller geschrieben, unter anderem über Gewalt und die Art, wie wir denken. In seinem neusten Werk erklärt er die Bedeutung von Rationalität. Pinker lebt mit seiner Frau in Boston und Truro im US-Bundesstaat Massachusetts.
Steven Pinker (67) stammt aus Montreal (Kanada). Er studierte Psychologie. 20 Jahre lehrte er am MIT in Boston, und seit 2003 ist er Professor für Psychologie in Harvard. Seine Forschungen beschäftigen sich mit Sprache und Denken. Das «Foreign Policy» zählt ihn zu den «100 globalen Intellektuellen» und das «Time Magazine» zu den aktuell «100 einflussreichsten Menschen». Pinker hat mehrere Besteller geschrieben, unter anderem über Gewalt und die Art, wie wir denken. In seinem neusten Werk erklärt er die Bedeutung von Rationalität. Pinker lebt mit seiner Frau in Boston und Truro im US-Bundesstaat Massachusetts.
Ist es eine Frage der Intelligenz, ob man an solche Dinge glaubt?
Nein, selbst gebildete Menschen haben Mühe zu glauben, dass unser Verstand aus nichts anderem als Hirnaktivitäten besteht.
Wieso?
Komplizierte Dinge müssen für uns immer das Resultat einer Planung sein. Wenn wir lebendige Dinge sehen, tendieren wir dazu, so etwas wie einen allmächtigen Schöpfer zu erwarten. Wenn man dann einen Schritt weiter geht, muss alles, was auf der Welt passiert, Teil eines Plans sein …
Dann ist man bald bei Verschwörungstheorien ...
Korrekt. Oder bei einer komischen Art von Spiritualität, bei der alles, was passiert, einen Grund haben muss.
Sie sind so etwas wie der Chef-Optimist der Welt. Werden wir bald aus dieser Pandemie kommen?
Ich würde mich nicht als Optimist bezeichnen, sondern als einer, der sich auf Statistiken bezieht, welche die meisten ignorieren. Die Zahl der Kriegstoten ist in den letzten 75 Jahren massiv zurückgegangen. Das Gleiche gilt übrigens für Armut, Hunger und Kindersterblichkeit. Das ist kein Optimismus, sondern Realität.
Ist Fortschritt ein Sieg der Rationalität?
Fast vollständig, ja. Wir leben länger, weil Wissenschaftler entdeckten, dass Keime Krankheiten verursachen und wie Impfungen funktionieren. Der Rückgang der Kriegstoten rührt daher, dass die Menschen in der Uno ihre Köpfe zusammenstecken, um den dritten Weltkrieg zu verhindern. Nichts im Universum sorgt auf natürliche Art und Weise dafür, dass es der Menschheit besser geht. Hunger, Krieg und Zerfall sind natürlich – wir können dies allenfalls dank unserem Verstand hinauszögern oder verhindern.
Wieso sehen das viele anders?
Weil sie nicht Trends, sondern Schlagzeilen folgen. Schlagzeilen fokussieren auf das, was dramatisch schiefläuft, und nicht auf das, was langsam, aber konstant besser wird.
Geben Sie ein Beispiel.
Schlagzeilen über Menschen, die trotz Impfung Covid kriegen.
Wieso? Diese Fälle gibt es.
Natürlich gibt es sie. Aber es war immer bekannt, dass die Impfung nicht zu 100 Prozent schützt. Ein Impfdurchbruch ist also statistisch absolut erwartbar und sollte keine Schlagzeilen generieren. Wenn man daraus Schlagzeilen macht, kriegen die Leute den Eindruck, solche Fälle kämen häufig vor, und das lässt sie an der Effektivität der Impfung zweifeln – weil über die 99 Prozent, die geimpft sind und die keine Covid-Ansteckung kriegen, nicht berichtet wird.
Sind Sie zuversichtlich, was den Ausgang dieser Pandemie angeht?
Wie alle Pandemien wird sie verschwinden. Die Frage ist, ob wegen der Impfkampagne oder wegen der Herdenimmunität. Wahrscheinlich wird es eine Kombination sein. Aber die Impfung ist sehr effektiv, und nur eine Minderheit will sich nicht impfen lassen. Das verlängert die Pandemie zwar, aber nicht zu sehr.
Steven Pinker: «Mehr Rationalität. Eine Anleitung zum besseren Gebrauch des Verstandes». S. Fischer. Erscheint am 29. September.