Ihr neues Buch ist Ihrer Cousine gewidmet, die wie Sie in den 60er Jahren in ärmlichen Verhältnissen im Norden Englands aufwuchs. Während Sie als Ökonom zu Ruhm und Geld kamen, blieb sie zeitlebens arm. Wie können zwei Leben derart unterschiedlich verlaufen?
Paul Collier: Die Tragödie war, dass es kaum Sicherheitsnetze gab, die meiner Cousine halfen, ein würdevolles Leben zu führen. Mein Weg zeigt, dass es damals einige wenige Pfade gab, die nach oben führten. Grossbritannien war schon immer schlecht darin, Menschen auf die Beine zu helfen. Darin müssen wir besser werden. In der jüngeren Vergangenheit geschah aber das genaue Gegenteil: Es wurde schlimmer.
Würden Sie heute mit Ihren Talenten in eine Arbeiterfamilie in Sheffield geboren, wäre es also noch unwahrscheinlicher für Sie, Professor in Oxford zu werden?
Sehr viel unwahrscheinlicher! Ich hatte grosses Glück.
Untersuchungen zeigen, dass es der Menschheit noch nie so gut ging wie heute. Was antworten Sie darauf?
Der Kapitalismus hat die Produktivität weltweit gesteigert. Allerdings müssen wir ihn wieder auf den richtigen Weg bringen. In den letzten vierzig Jahren wurde das Leben für die Hälfte der Bürger in den Industrienationen eben nicht besser. Viele wurden zurückgelassen und profitieren nicht mehr vom Wunder der gesteigerten Produktivität.
Und in den ärmeren Staaten?
Dort beobachten wir einen ähnlichen Prozess. Einige erstaunliche Erfolge wie China oder Indien ragen heraus, daneben erleben wir eine Fortsetzung der Tragödie. Das muss nicht zwingend so sein. Der Kapitalismus setzt als einziges System ein unglaubliches Potenzial frei. Aber er funktioniert nicht im Autopilot.
Welche Gesellschaftsschichten verpassen in den westlichen Ländern den Anschluss?
Zwei, die sich überschneiden. Um 1980 begannen die in die internationalen Märkte eingebundenen Metropolen und die kleineren, provinziellen Orte auseinanderzudriften. Letztere wurden immer ärmer. Parallel bildete sich ein neuer Klassenunterschied heraus zwischen den gut und den weniger gut Ausgebildeten. Beide Gräben öffneten sich vor rund 40 Jahren. Und sie werden immer breiter.
Vor 1980 war alles besser?
Von 1945 bis in die 70er-Jahre hinein existierte im Westen eine gemeinsame Identität und die Bereitschaft, gegenüber der Gesellschaft Verpflichtungen einzugehen. In Grossbritannien entstanden ein modernes, staatliches Gesundheitswesen und gute staatliche Schulen. Das Wir-Gefühl, entwickelt im Krieg, war die Voraussetzung für diese gemeinsamen Anstrengungen. Die Tragödie war, dass es uns abhanden kam. Die Menschen begannen, es als selbstverständlich anzusehen. Neu ist, dass nichts unternommen wird, um diese neuen Verwerfungen des Kapitalismus anzugehen. Die Verwerfungen der Vergangenheit wurden verhältnismässig zügig angegangen.
Können Sie dies kurz ausführen?
In den 1840er-Jahren wuchsen die jungen Industriestädte in Nordengland wie verrückt. Das Leben war die Hölle. Die Cholera wütete, in manchen Orten sank die Lebenserwartung auf 19 Jahre. In dieser Zeit merkten die ersten Unternehmer, dass sie eine Verantwortung gegenüber ihren Arbeitern hatten.
Was war der Effekt?
In Halifax, ebenfalls in Nordengland, wuchs eine Bausparkasse zur grössten Bank des Landes. Gegründet wurde sie, um für die Industriearbeiter Wohnraum zu schaffen. In diese Zeit fällt auch die Entstehung der genossenschaftlichen Bewegung. Das brillante dieser Idee war, dass die Leute erkannten, dass man sich gemeinsam engagieren musste um das Leben aller zu verbessern. Und dass jeder gegenüber anderen Verpflichtungen hat. Wer diese Verpflichtungen erfüllt, erfährt Anerkennung. Das war das Herz dessen, was ab 1945 landesweit in Grossbritannien und in Europa geschah.
Da begann auch die grosse Zeit der Sozialdemokratie.
Es gab einen sozialdemokratischen Konsens, ob ein Politiker nun Mitglied einer Partei war, die sich sozialdemokratisch nannte oder nicht. Das Wir-Gefühl, von dem ich gesprochen habe, hätte man verwenden können um mit den Schocks umzugehen, die in den 1980er-Jahren einsetzten: Die Globalisierung und das Auseinanderdriften von gut und weniger gut Qualifizierten, die von der Produktivitätssteigerung nicht profitieren.
Was passierte stattdessen?
Die Linken wie die Rechten haben das Wir-Gefühl aufgegeben und setzen auf Individualismus. Ssie glauben, dass die Menschen so ticken. Sie liegen damit total falsch, wie die moderne psychologische Forschung zeigt.
Was zeigt diese?
Am Ende ihres Lebens bedauern Menschen nicht, zu wenig Geld verdient zu haben, sondern sie bedauern, wenn sie jemanden im Stich gelassen oder enttäuscht haben. Wir sind nicht die gierigen Egoisten, zu denen uns die Ökonomen machen wollen
Aber was hat das mit Politik zu tun?
Die Rechte hat sich seit 1980er-Jahren darauf konzentriert, die Firmen von ihrer gesellschaftlichen Verantwortung zu entlasten, damit sie sich hemmungslos dem Profit widmen können. Die Linke war damit beschäftigt, Geld von den Reichen auf die Armen umzuverteilen und Minderheiten mit politischen Rechten zufrieden zu stellen.
Wäre das nicht geschehen, dann könnten Frauen in der Schweiz immer noch nicht wählen, Homosexualität wäre nachwievor verboten und die Afroamerikaner müssten in separaten Bussen reisen.
Diese Kämpfe mussten ausgetragen werden und zum Glück wurden sie ausgetragen. Aber am Anfang ging es den Afroamerikanern darum in die Gesellschaft eingebunden zu werden. Heute wird man in den USA und in Europa immer mehr auf Grund seiner Zugehörigkeit zu einer Gruppe beurteilt und nicht auf Grund seiner Leistung.
Wie meinen Sie das?
Ich forsche viel in Afrika und erlebe es an wissenschaftlichen Konferenzen immer wieder, dass schwarze Frauen nicht mehr kritisiert werden, weil man sich vor der Reaktion fürchtet.
Das stimmt doch nicht!
Der Kampf um Einbindung war heroisch und nötig, aber er hat sich zum Teil gewandelt in eine Forderung nach Wertschätzung, die nichts mit der Leistung, sondern mit der Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu tun hat. Das ist eine Form von Rassismus.
Sie plädieren für eine Politik der Mitte. Fakt ist: Die Sozialdemokratischen Parteien Europas haben in den 90er Jahren die Mitte gesucht, auch CDU-Kanzlerin Angela Merkel verfolgt eine Politik des Pragmatismus. Beide Richtungen verlieren Wähler.
Sowohl die Sozialdemokraten, wie auch Merkel haben etwas vergessen: Um ein Wir zu schaffen, muss man über Zugehörigkeit reden. Insbesondere die linken Parteien reagierten zunehmend allergisch auf den Begriff. Die extreme Rechte nutzt Zugehörigkeit in einem bösartigen Sinne: Sie schafft ein Wir-Gefühl, in dem sie andere Gruppen ausschliesst. Pragmatismus heisst aber noch etwas anderes.
Und zwar?
Praktische Lösungen für wirkliche Probleme. Das bedingt eine vorausschauende Politik. Die Schweiz zeigt, wie gut das in einem dezentralen System funktioniert. Populismus ist das Gegenteil und genau das werfe ich Merkel vor. Nehmen sie den Klimawandel: Nach dem Tsunami in Japan legten die Grünen in den Umfragen zu, weil sie gegen Atomkraft sind. Also kündigte Merkel die Stilllegung der Atomkraftwerke an. Das ist unverantwortlich.
Wieso?
Wird es in der Schweiz je einen Tsunami geben? Nein. In Deutschland? Nein. Die Japaner haben es vermasselt, in dem sie ein Atomkraftwerk direkt an die Küste gebaut haben, in einer Erdbebenzone. Wegen des Klimawandels brauchen wir eine Energie, die keine CO2 verursacht. Das ist die Atomkraft, auf die wir nicht verzichten können. Aber statt vorauschauend zu führen, entschied sich Merkel, den Meinungsumfragen zu folgen.
Das klingt alles pessimistisch.
Wissen Sie, eigentlich ist es falsch Ökonomen zum Zustand unserer Gesellschaft zu befragen. Ökonomen sind darauf programmiert, an die unsichtbare Hand zu glauben, die ohne Zuwirken alles in eine gute Richtung steuert. Aber: Weder in der Politik noch im Kapitalismus gibt es einen Autopilot. Hoffnung habe ich trotzdem: Ich bin überzeugt, dass für moderate Politik ein riesiges Wählerpotential schlummert.