«Vielleicht ist es am Schluss doch der EU-Beitritt»
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Geschichtsprofessor Holenstein:«Vielleicht ist es am Schluss doch der EU-Beitritt»

Geschichtsprofessor André Holenstein über die Beziehungen zur EU
«Wir sind eine Nation wider Willen!»

André Holenstein ist der renommierteste Experte für Schweizer Geschichte – und fragt in seinem aktuellen Buch: Waren wir wirklich immer so unabhängig, wie wir denken? Die Antwort lautet: Nein. Nur weil sich die Schweiz anpasste, wurde sie überhaupt erst ein Staat.
Publiziert: 12.06.2021 um 19:30 Uhr
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Aktualisiert: 13.06.2021 um 08:05 Uhr
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André Holenstein ist Professor für ältere Schweizer Geschichte an der Universität Bern. Er kritisiert das Geschichtsbild jener, die das Rahmenabkommen mit der EU begraben haben.
Foto: Philippe Rossier
Interview: Benno Tuchschmid

Wann haben Sie zum letzten Mal Ihre Souveränität verloren?
André Holenstein: Sie meinen die Beherrschung?

Ja.
Ich war vor kurzem mal versucht, die Fassung zu verlieren, als während eines digitalen Seminars eine Studentin gegessen und geraucht hat. Ich habe mich zum Glück nicht provozieren lassen. Am Ende bewahre ich in der Regel die Contenance.

Auch am 26. Mai, als der Bundesrat die Verhandlungen über ein Rahmenabkommen abbrach?
Ja, obwohl mich die Art und Weise, wie der Entscheid zustande kam und kommuniziert wurde, schon betroffen macht. Es hat sich wieder gezeigt, wie schwach der Bundesrat aussenpolitisch ist.

Der Bundesrat brach die Verhandlung unter anderem ab, weil die Schweiz durchs Rahmenabkommen zu viel Souveränität eingebüsst hätte. Gemäss Bundesrat Ueli Maurer reiht sich dieser Kampf um Unabhängigkeit in die Schweizer Geschichte ein. In einer Rede sagte er mal: Seit Ewigkeiten müssten sich die Schweizer Bürgerinnen und Bürger «immer wieder der Einflussnahme durch grosse Staaten oder mächtige Institutionen entgegenstellen».
(Seufzt.) Wenn das wenigstens eine bewusste Strategie wäre.

Es ist auf jeden Fall das komplette Gegenteil dessen, was Sie aufgrund jahrzehntelanger Forschungsarbeit als Souveränität definieren.
Maurers Aussage ist Ausdruck eines schiefen Geschichtsbildes, das die SVP seit Jahr und Tag verkündet. Alt Bundesrat Blocher hat einmal gesagt, die Schweizer Geschichte sei ein einziges Wechselspiel von Anpassung und Widerstand. Jene, die sich anpassten, seien schlechte Schweizer. Jene, die Widerstand leisteten, gute, echte Schweizer.

Woher kommt dieser Glaube?
Die Belege sucht man vom Mittelalter, bei den Schlachten der tapferen Eidgenossen, bis hin zur Schweiz, die Nazi-Deutschland die Stirn geboten habe. Und jetzt soll es angeblich darum gehen, der EU die Stirn zu bieten. Die Nationalkonservativen sehen die Schweiz gern in der Rolle von David, der dem übermächtigen Goliath Widerstand leistet und am Ende gewinnt. Das ist Ausdruck eines Minderwertigkeitskomplexes und grenzt an Grössenwahn.

Wie äussert sich das in unserem Verhältnis zur EU?
Indem wir etwa verdrängen, dass uns die EU in den letzten 20 Jahren massiv entgegenkam mit den bilateralen Verträgen. Schon das Wort «bilateral» suggeriert etwas Falsches.

Was denn?
Eine Begegnung zwischen gleichberechtigten Partnern auf Augenhöhe. Es verschleiert die Tatsache, dass wir mit dem Teilzugang zum Binnenmarkt an einem EU-Projekt mitmachen.

Das heisst?
Der Binnenmarkt ist ein Projekt der EU. Da können wir nicht kommen und sagen, wir machen bei eurem Markt mit, aber nur, wenn ihr hier was ändert und da etwas anpasst.

Aber wie soll die Schweiz mit ihrem Verständnis von Souveränität einen EU-Gerichtshof akzeptieren?
Welcher Gerichtshof ausser dem EU-Gerichtshof soll denn bei der Auslegung von europäischem Recht sonst zum Einsatz kommen? Ich würde ja gerne unsere Souveränisten sehen, wenn jemand verlangen würde, dass für Schweizer Recht nicht das Bundesgericht zuständig sein sollte. Der EU-Binnenmarkt funktioniert nach EU-Recht, also sind auch wir diesem unterstellt.

Lässt sich unser sehr weit gehendes Bedürfnis nach Souveränität und Unabhängigkeit nicht bis 1291 zurückverfolgen?
Sie meinen bis zum sogenannten Bundesbrief? Sicher nicht. Als sich damals drei Talgemeinden zusammenschlossen, hatten diese nicht im Sinn, einen Staat zu gründen. 1291 ging es um das Verbot eigenmächtiger Gewalt, um Kriminalitätsbekämpfung und Strafverfolgung.

Ab wann beginnt dann die Eidgenossenschaft so etwas wie ein Selbstverständnis zu entwickeln?
Erst als seit dem späten 14. und im 15. Jahrhundert machtbewusste Städte wie Zürich, Luzern und Bern eine aggressive, expansive Politik gegen die Habsburger im Aargau und Thurgau zu verfolgen beginnen. Im Gegensatz zur früheren Nationalgeschichte würde ich aber nicht von einem Freiheitskampf sprechen.

Worum ging es dann?
Um regionale Machtkämpfe – bei der die eidgenössischen Orte insbesondere seit der Eroberung des Aargaus 1415 gegenüber Habsburg die Oberhand gewinnen. Von da an wachsen die verbündeten Kommunen mehr und mehr zur Eidgenossenschaft zusammen, aber nicht weil sie das wollen, sondern weil sie die Umstände dazu zwingen.

Wie meinen Sie das?
Nach den spektakulären militärischen Erfolgen in den Burgunderkriegen 1474 bis 1477 werden die europäischen Grossmächte auf die Eidgenossen aufmerksam und wollen möglichst gute Beziehungen. Auch weil die Schweiz an einer besonders neuralgischen Stelle liegt. Mitten in Europa, zwischen den grossen Mächten. Das drängt die Eidgenossen in eine geopolitische Rolle, die sie gar nicht gesucht haben.

Und trotzdem beginnt die Eidgenossenschaft sich dann Ende 14., Anfang 15. Jahrhundert als lose Einheit zu verstehen. Wieso gerade dann?
Weil das Bedürfnis nach Identität erst ab dem Moment entstehen kann, wo man jemand geworden ist. Dann will man sich selbst und den anderen erklären, seit wann es einen gibt, wieso es einen gibt und was einen ausmacht. Dieses Bedürfnis befriedigten die bekannten Geschichten aus dem Weissen Buch von Sarnen mit Wilhelm Tell, den bösen Vögten und dem Rütli. Mit dem tatsächlichen Geschehen hat das nichts zu tun. Es ging um Identitätsbildung.

Was war denn tatsächlich der Fall?
Dass alle europäischen Mächte um die Freundschaft der Eidgenossen buhlten. Das Rennen machte der französische König, der alle 13 Orte an sich binden konnte. Die französischen Könige garantierten den Eidgenossen seit dem frühen 16. Jahrhundert militärische Hilfe bei einem Angriff. Dazu kam ein enormer Transfer von Ressourcen aus Frankreich.

Welcher Art?
Der König von Frankreich zahlte jährlich jedem eidgenössischen Ort eine stattliche Pension. Darüber hinaus lebten mächtige Familien über Jahrhunderte von der Entsendung von Söldnern. Dazu kamen Handels- und Zoll-Privilegien für den Export von Waren nach Frankreich sowie verbilligte Salzlieferungen an die Viehzüchter und Käseproduzenten in der Eidgenossenschaft. Die Schweiz stand schon damals in enormen Abhängigkeiten zum Ausland und arrangierte sich damit.

Einigkeit herrschte innerhalb der Eidgenossenschaft aber auch dann keine.
Im Gegenteil. Die Eidgenossenschaft war ein System voller Konkurrenz, Rivalität, Neid und Eifersucht.

Und äusserst instabil dazu. Bis zum Wiener Kongress 1815, als die Grossmächte, wie Sie sagen, die Schweiz «zu einem nützlichen Glied der europäischen Staatengemeinschaft» machten. Was meinen Sie damit?
Dieser Kongress hatte die Aufgabe, die Sicherheitsarchitektur in Europa neu zu ordnen. Deswegen teilten Russland, Österreich, Preussen und das Vereinigte Königreich den Kantonen unmissverständlich mit, was sie von ihnen erwarteten: stabile Verhältnisse im Inland. Gegenseitige Anerkennung der Eigenständigkeit der Kantone. Eine Stärkung der Bundesgewalt. Und die Errichtung einer Bundesarmee, welche künftig die Neutralität glaubwürdig verteidigen könnte. Das hatte die Schweiz bis dahin nicht.

Wieso verlangten das die Grossmächte?
Weil sie verhindern wollten, dass eine einzelne Macht die Schweiz kontrolliert, wie Frankreich zwischen 1798 und 1813.

Die Schweiz wurde also eine Nation auf Druck von aussen?
Ja. Die Schweiz ist keine Willensnation. Sie ist eine Nation wider Willen.

Die staatspolitische Dauerkrise der Schweiz endete trotz Wiener Kongress erst nach dem Sonderbundskrieg mit der Bundesverfassung von 1848 ...
Die eigentlich nichts anderes ist als das institutionelle Rahmenabkommen der Schweiz.

Wie bitte?
Was regelt die Bundesverfassung? Die Souveränitätsfrage im Verhältnis zwischen Kantonen und Bund. Dazu gehört unter anderem die Personenfreizügigkeit, die bedeutet, dass sich Waadtländer in Uri und St. Galler in Genf niederlassen können. Dagegen wehrten sich die kleinen Kantone über 1848 hinaus mit Hand und Fuss. Auch aus Angst vor den Folgekosten und der Zuwanderung fremder Kulturen, gemeint waren Andersgläubige, wir Protestanten oder Juden.

In der Debatte um den Rahmenvertrag argumentierten die Befürworter nie historisch.
Leider wird die Geschichte nur von den Gegnern einer Annäherung an Europa gebraucht – und zwar mit einem Geschichtsbild, das in der Forschung seit mindestens 40 Jahren von niemandem mehr vertreten wird.

Weshalb dringt die Forschung nicht durch?
Weil sie mit einem tief verwurzelten nationalen Selbstverständnis kollidiert. Ich bedaure das sehr. Die Schweizer Geschichte bietet mit ihrem föderalistischen Experiment eine Erfahrung, eine Klugheit, die man in Europa gut gebrauchen könnte. Aber wir müssten erst mal selbst einsehen, dass die Schweiz das Ergebnis einer langen und komplizierten Integrationsgeschichte ist.

Und welche Schlüsse ziehen Sie für die Europapolitik aus der historischen Forschung?
Wenn man den Föderalismus ernst nimmt, sollte man einsehen, dass dieses Prinzip nicht an den Staatsgrenzen haltmacht. Über kurz oder lang werden wir ein geregeltes Verhältnis zur EU finden müssen. Vielleicht auch mit einem EWR- oder EU-Beitritt. Wir liegen nun mal da, wo wir liegen. Dass sich um uns herum eine Europäische Union formiert hat, gilt es endlich auch politisch anzuerkennen und nicht nur wirtschaftlich. Vorerst aber ist Durchwursteln angesagt.

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