Die Debatte über den Röstigraben
«Die Romands sind noch immer europhil!»

Die Chefredaktoren von Blick-Gruppe und Blick Romandie diskutieren über die unterschiedliche Beziehung von Deutsch- und Westschweiz zur EU.
Publiziert: 06.06.2021 um 01:10 Uhr
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Aktualisiert: 17.06.2021 um 10:49 Uhr
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Christian Dorer, Chefredaktor der Blick-Gruppe, und ...
Foto: Helmut Wachter / 13 Photo
Christian Dorer, Chefredaktor Blick-Gruppe, und Michel Jeanneret, Chefredaktor Blick Romandie

Das Aus für den Rahmenvertrag hat die Schweiz erschüttert. Die einen sind schockiert, die anderen jubeln und alle stellen sich die Frage: Wie geht es weiter mit der Beziehung zur EU? Wie haben die Romands und wie haben die Deutschschweizer dieses historische Ereignis erlebt?

Michel Jeanneret: Für uns Romands ist das Thema Rahmenabkommen erstaunlich nebensächlich.

Christian Dorer: Woran machst du das fest?

Jeanneret: Ein interessantes Beispiel: Der Leitartikel von «Le Matin Dimanche» thematisierte nach diesem wegweisenden Bundesratsentscheid nicht das Rahmenabkommen, sondern das Treffen von Putin und Biden in Genf … Der einzige Artikel zum Verhandlungsabbruch stand irgendwo weit hinten in der Zeitung und drehte sich um die Frage der Wiederwahl von Cassis und Keller-Sutter. Und es ist auch kein Diskussionsthema im Publikum. Wie war es bei euch?

Dorer: Die Reaktionen in den Deutschschweizer Medien waren eher kritisch. Man wirft dem Bundesrat vor, sieben Jahre ohne Ergebnis verhandelt zu haben. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass viele Leute stolz sind auf den Bundesrat, weil er selbstbewusst entschieden hat.

Jeanneret: Bei Umfragen waren 64 Prozent der Romands für das Rahmenabkommen. Wir sind uns stärker bewusst als die Deutschschweizer, dass wir die EU und den bilateralen Weg brauchen. Die Angst vor negativen Folgen ist grösser, weil wir auch innerhalb der Schweiz eine Minderheit sind. Trotzdem glaube ich, dass das Rahmenabkommen die Romands und die Deutschschweizer eint.

Dorer: Und die Deutschschweizer haben das Gefühl, dass die Romands noch immer europhil sind und wir mehr Wert auf unsere Unabhängigkeit legen ... Warum glaubst du, dass das Aus fürs Rahmenabkommen die Schweiz eint?

Jeanneret: Wir sind heute viel weniger Europa-affin als früher. Ich selber bin ein gutes Beispiel dafür: Am 6. Dezember 1992 protestierte ich auf der Strasse und war sehr wütend auf die Deutschschweizer wegen ihres Neins zum EWR. Ich war 19 Jahre alt, meine Wut hat sich seither stark abgekühlt. Ich habe begriffen, dass der bilaterale Weg zu unseren Institutionen passt. Wie hast du die EWR-Abstimmung erlebt?

Dorer: Ich war damals Kantischüler und noch zu jung, um abstimmen zu dürfen. Ich und meine Kameraden waren auch für den EWR, aber eher verhalten. Christoph Blocher übte auf uns eine gewisse Faszination aus, weil er alleine gegen alle in den Kampf zog. Wir fragten uns, ob er vielleicht doch recht hatte. Und so hat uns das knappe Nein zwar erstaunt, aber nicht empört, vielleicht sogar erleichtert.

Jeanneret: Für uns war Blocher das Feindbild schlechthin. Er verkörperte genau den Typ Deutschschweizer, den wir in der Romandie nicht mochten. Damals war es das grösste Tabu zu sagen, dass man einverstanden ist mit Blocher. Selbst Leute, die den EWR-Beitritt ablehnten, hätten dies nie gesagt.

Dorer: Blocher polarisiert auch in der Deutschschweiz, bis heute. Jetzt etwas weniger, da die Zeit vorbei ist, wo er an vorderster Front kämpfte.

Jeanneret: Heute gibt es viele Romands, die sagen: Gott sei Dank, war damals jemand da, der die richtigen Fragen stellte.

Dorer: Das Problem mit Europa ist die Personenfreizügigkeit. In der Deutschschweiz ist die Meinung tief verankert, dass in den vergangenen Jahren zu viele Menschen in die Schweiz eingewandert sind. Die Häuserpreise sind explodiert, Strassen und Züge sind überfüllt, die Infrastruktur wurde bis heute nicht rasch genug ausgebaut. Dieses Unbehagen entlud sich 2014 im Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative. Viele nehmen auch wirtschaftliche Nachteile in Kauf, um die Zuwanderung zu reduzieren.

Jeanneret: Die Genferinnen und Genfer etwa wissen sehr wohl, dass sie abhängig sind von der Zuwanderung aus dem Grenzgebiet. Bei der Masseneinwanderungs-Initiative gab es einen tiefen Röstigraben. Die Romandie hat klar dagegen gestimmt. Das zeigt, dass die Romands weltoffener sind als die Deutschschweizer.

Dorer: Das hat nichts mit Weltoffenheit zu tun. Ich halte es für legitim, dass ein Land regelt, wie viele Menschen zuwandern dürfen. In der Deutschschweiz kommen europäische Politiker gut an, die den Nationalstaat hochhalten, ohne ins Populistische abzudriften. Zum Beispiel der österreichische Kanzler Sebastian Kurz. Wenn Blick.ch über ihn schreibt, dann werden diese Artikel extrem gut geklickt. Welche europäischen Politiker kommen in der Westschweiz gut an?

Jeanneret: Es gibt keine europäische Figur, welche die politische Debatte in der Romandie prägt. Schon gar nicht Macron: Er ist für die Romands eine grosse Enttäuschung. Er wollte die grosse europäische Idee neu lancieren und ist krachend gescheitert.

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