Ein Flüstern geht durch dieses Land, die Schweiz, und es wird lauter mit jedem Tag. Vernehmen kann man es an vielen Orten, etwa an den Universitäten: Warum sollen wir uns ohne Not aus den europäischen Bildungs- und Forschungsprogrammen verabschieden? Warum sollen unsere Studierenden auf Erasmus verzichten? Wie soll unsere Wissenschaft das Niveau halten, wenn sie isoliert wird von den europäischen Förderungen wie Horizon 2020? Nein, die Jugend und die Forschung brauchen Europa! Aber wie soll es jetzt nur weitergehen, wenn das institutionelle Abkommen gescheitert und der bilaterale Weg verschlossen ist?
Das Flüstern geht auch durch die Umweltverbände, man hört es bei der Klimajugend und bei allen, die sich um die natürlichen Lebensgrundlagen Sorgen machen. Wie sollen wir als Schweiz die Klimaerwärmung bekämpfen? Wie sollen wir uns gegen die Interessen und die Macht der Erdöllobby durchsetzen? Unsere Zivilisation steht vor der grössten industriellen Herausforderung der letzten 250 Jahre: der Ausstieg aus den fossilen Energieträgern. Das ist keine Frage der politischen Überzeugung, es ist eine Frage des Überlebens. Sie wird die nächsten Generationen beschäftigen – wirtschaftlich, technologisch, gesellschaftlich. Und gewiss sind der Klimawandel und das Artensterben keine nationalen, sondern globale Aufgaben. Um sie zu bewältigen, bedarf es internationaler Kooperationen und Abkommen. Wie soll uns das gelingen, wenn wir es als Land nicht einmal schaffen, mit unseren direkten Nachbarn einen Vertrag abzuschliessen?
Krankheiten kennen keine Grenzen
Wir hören dieses Flüstern, wenn es um unsere Gesundheit geht. Die Pandemie offenbart es: Krankheiten kennen keine Grenzen. Die Länder müssen die Massnahmen mit ihren Nachbarn abstimmen. Was hilft es einer Ostschweizerin, wenn sie zwar jederzeit ins Misox, aber nicht nach Konstanz oder Bregenz reisen darf, selbst wenn dort die Inzidenzen geringer sind als im schweizerischen Bergtal? Und wie sinnvoll ist eine nationale Kampagne, wenn die Nachbarländer nicht genügend Impfstoff haben? Covid-19 wird nicht das letzte Virus sein, das wir zu bekämpfen haben – und wie kann diese Abwehr wirksam sein, wenn uns die Verträge fehlen, die diesen Kampf in einen institutionellen Rahmen fügen?
Selbst in den Gewerkschaften, die sich für den Lohnschutz einsetzen, setzt langsam das Flüstern ein. Lohnschutz, das ist gut, das ist recht, das ist wichtig – aber sind nicht ein guter Teil unserer Mitglieder Menschen aus Portugal, aus Spanien, aus Italien und aus Polen und haben ihre Verwandten in diesen Heimatländern nicht auch ein Recht auf gerechte Gehälter? Wie aber sollen wir hier uns dafür einsetzen, wenn wir auf europäischer Ebene keine Stimme haben?
Und auch bei jenen, die wissen, wie wichtig ein sicheres Stromnetz für unser Land ist, kann man das Flüstern deutlich vernehmen. Das sind nicht wenige. In seiner Risikoanalyse aus dem vergangenen Jahr bezeichnet der Bundesrat eine Strommangellage im Bereich der Technik als grösstes Risiko für unser Land. Und im Jahr zuvor stellte eine Studie der Universität St. Gallen den schleichenden Ausschluss der Schweiz aus dem europäischen Elektrizitätssystem fest und empfahl dringend eine Verständigung zwischen den Akteuren. Dazu muss man kein Experte sein. Man muss nur einen Blick auf die Karte werfen. Unsere Nachbarländer gehören zur Europäischen Union, ob wir das nun wollen oder nicht. Wie also sollen wir die Versorgung unserer Infrastruktur sichern, wenn wir uns nicht in den europäischen Strommarkt integrieren?
Gibt es Sicherheit ohne Europa?
Das Flüstern wird lauter dort, wo man sich um die Sicherheit bemüht. Wir wissen es: Die Cyber-Angriffe auf unsere Spitäler haben alleine in den beiden letzten Monaten des vergangenen Jahres um 59 Prozent zugenommen. Gleichzeitig melden Fachleute den Diebstahl von zwei Millionen E-Mail-Adressen. Das sind nur zwei Beispiele. Die Cyberkriminalität boomt. Nein, die Sicherheit und Strafverfolgung sind längst keine nationalen, es sind internationale Aufgaben. Im Internet gibt es keine Grenzkontrollen. Wie aber wollen wir ohne europäische Abkommen unsere kritische Infrastruktur schützen?
Das Flüstern wird auch bei jenen lauter, die sich Gedanken über unsere Einwanderungspolitik machen. Migration ist nicht zuerst ein Schaden, nicht zuerst ein Problem. Sie ist eine geschichtliche Konstante, und Asyl zu suchen, ist ein verbrieftes Menschenrecht. Wer nicht will, dass Menschen gezwungen werden, ihre Heimat zu verlassen, der muss ein Interesse an gerechteren Verhältnissen haben – und zwar weltweit. Wie haben viele Europäer sich über den amerikanischen Präsidenten empört, als er an der mexikanischen Grenze eine Mauer bauen wollte. Wir hier brauchen keine Mauer. Wir haben ein Meer. In diesem Meer ertrinken zu viele Menschen beim Versuch, nach Europa zu kommen. Im laufenden Jahr sind es nach Schätzungen schon über fünfhundert Opfer. Betrifft uns dies als Schweizer nur deshalb nicht, weil zwischen Chiasso und Genua eine Landesgrenze verläuft? Die Zustände in den bosnischen Lagern sind eine Schande für uns alle. Sollten wir nicht im Namen der humanitären Tradition und auch im eigenen Interesse eine bessere, gerechtere Flüchtlingspolitik fordern – und zwar auf europäischer Ebene? Aber wie kann das geschehen, wenn wir mit der EU kein Abkommen zustande bekommen?
Das Flüstern wird lauter mit jedem Tag, und das erfreut nicht alle. Es erschreckt zum Beispiel jene, die weiterhin von einer Zukunft der Schweiz als Steuerparadies träumen. Sie haben nämlich nicht nur das Flüstern gehört, sondern auch die Posaunen aus dem Kongress der Vereinigten Staaten. Ende April prangerte dort der amerikanische Präsident Joe Biden die Schweiz als Steuerparadies an. Ob das aus dem Mund eines langjährigen Senators von Delaware glaubwürdig ist, einem Bundesstaat, der berüchtigt ist für sein Steuerdumping? Wahrscheinlich nicht. Ob der Druck auf die Schweiz in dieser Angelegenheit trotzdem weiter zunehmen wird? Ganz sicher! Ob eine international koordinierte Steuerpolitik im Interesse der Mehrheit liegt? Ohne Zweifel!
In den 90er-Jahren war die Hoffnungslosigkeit omnipräsent
Bei jenen, die sich an die Neunzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts erinnern, wird das Flüstern bisweilen zum lauten Rufen. Waren die Jahre nach dem Nein zum Europäischen Wirtschaftsraum im Dezember 1992 nicht eine verlorene Zeit? Wie gross war der Streit in diesem Land, wie tief der gesellschaftliche Graben zwischen der Deutschschweiz und der Romandie, den Städten und der Landbevölkerung, zwischen Jung und Alt! Alleingang, das war die Devise, aber wohin dieser Alleingang dieses Land führen sollte, das wusste auch damals niemand. Initiativen, die eine europäische Integration verlangten, wurden ebenso verworfen wie jene, die genau das Gegenteil verlangten. Verwirrung und Hoffnungslosigkeit überall. Die Arbeitslosigkeit stieg auf ein Rekordniveau. Die Jugend ohne Lehrstellen und ohne Zukunft. Nur die Shareholder mit ihrem Value machten fleissig Milliardengewinne. Nur und ausgerechnet jene, die durch ihre nationalkonservativen Ideologien die Verantwortung für diese Malaise trugen, steigerten den Profit. Die Stimmung im Land war so trübe, dass der Bundespräsident Ogi bei seiner Neujahrsansprache 1993 vom Trübsinn sprach, der sich wie Mehltau über das Land gelegt habe. Nein, es waren keine guten Jahre. Erst mit dem Abschluss der bilateralen Verträge wurde die Stimmung besser. Doch das dauerte zehn Jahre. Ist das die Perspektive? Noch einmal eine verlorene Dekade? Noch einmal dieselben unproduktiven Auseinandersetzungen? Wozu? Was hat dieses Land denn eigentlich von seinen Nachbarn zu befürchten? Stehen wir nicht in einem engen Austausch mit ihnen, jeden Tag, kulturell, wirtschaftlich, politisch? Warum sollten wir ihn misstrauen? Woher kommt diese Angst? Ist sie Ausdruck eines mangelnden Selbstbewusstseins? Das lächerliche, präpotente Triumphgeheul, das den Abbruch der Verhandlungen als «Zeichen der Stärke» umdeuten wollte, lässt dies vermuten.
Wohin? In den EWR?
Und doch wird und muss es irgendwie weitergehen. Aber da die Schweiz keinen Rahmenvertrag und da die EU keine Fortsetzung des bilateralen Weges will, was bleibt noch übrig? Der EWR? Mit dreissig Jahren Verspätung? Das wäre ein Treppenwitz der Geschichte, allerdings kein besonders guter. Wäre es nicht vernünftiger, endlich jene Fragen zu klären, die seit dreissig Jahren aus ideologischen Gründen nicht einmal gestellt werden dürfen? Wäre jetzt nicht von allen, die um das Wohlergehen dieses Lands und seiner Jugend besorgt sind, eine nationale Debatte gefordert? Sollten wir nicht einmal erfahren, was mit unseren Volksrechten, was mit unseren Sozialwerken, was mit unseren Institutionen, mit unserer Wirtschaft, Bildung und mit unserer Kultur geschehen würde, wenn die Schweiz – ja, wenn die Schweiz Mitglied würde in der Europäischen Union? Wäre es nicht an der Zeit, sich von allen Ängsten zu befreien, die stereotypen Vorwürfe des Landesverrats zu ignorieren und vom Bundesrat einen detaillierten Bericht über die institutionellen Konsequenzen und von der gesamten Zivilgesellschaft eine eingehende, vorurteilslose Diskussion einer Mitgliedschaft in der EU zu verlangen? Was könnte dieses Land dabei verlieren? Bloss ein paar alte, säuerliche und abgestandene Neurosen. Das wäre zu verkraften. Und was könnten wir gewinnen? Eine fruchtbare, konstruktive Diskussion, die Behörden und Bevölkerung gleichermassen beleben würde. Wir könnten das gewinnen, was jede Gesellschaft immer wieder neu entwerfen und gewinnen muss, nämlich unsere Zukunft.
Deshalb eine Nachricht an alle Pro-Europäer: Verpasst nicht noch einmal die Chance! Es öffnet sich gerade ein Fenster, es wird sich wieder schliessen, wenn ihr nicht dafür sorgt, dass dieses Flüstern eine Stimme bekommt, eine laute, in den Betrieben, den Schulen, den Wohngemeinschaften und den Einfamilienhäusern, in den Universitäten und den Hochschulen, eine Stimme ganz angstfrei und mutig: die Schweiz als 28. Mitglied der Europäischen Union!