Lukas Bärfuss über Jussy GE – wo Maudet gewählt und die Burka verboten wird
Das verlogene Dorf

Demokratie funktioniert nur, wenn Entscheide verständlich sind. Das wird immer schwieriger, wie sich am Beispiel des kleinen Orts Jussy aufzeigen lässt.
Publiziert: 14.03.2021 um 08:17 Uhr
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Aktualisiert: 16.04.2021 um 18:23 Uhr
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Lukas Bärfuss hat sich mit der Genfer Ortschaft Jussy auseinandergesetzt.
Foto: Philippe Rossier
Lukas Bärfuss

Jussy, die Gemeinde am äussersten Zipfel des Kantons Genf, ist bekannt für das Schloss Le Crest. Erbaut und bewohnt wurde es vom Schriftsteller und Feldherrn Théodore Agrippa d’Aubigné – eine ganz erstaunliche Persönlichkeit, die das Pech hatte, in einer ganz und gar fürchterlichen Zeit zu leben, während der Religionskriege nämlich, die im 16. Jahrhundert weite Teile Frankreichs verheerten. D’Aubignés Leben war geprägt von Gewalt. Nur knapp und nur durch glückliche Umstände überlebte er als junger Mann 1572 in Paris die Bartholomäusnacht. Als Heerführer der Protestanten wurde er verfolgt, fand schliesslich Asyl in der Republik Genf, wo er sich eben jenes Schloss bauen liess, das man noch heute am Eingang der kleinen Gemeinde an der Grenze zu Frankreich bewundern kann.

Neben dieser hübschen literarischen Reminiszenz ist Jussy seit letztem Sonntag leider nun auch für eine unerfreuliche Sache bekannt. Als Exempel für eine Gefahr, die unsere freiheitlichen Demokratien bedroht – weltweit und ganz besonders in der Schweiz.

Alles muss interpretiert werden

Politik ist ein System von Zeichen, deren Bedeutung in den seltensten Fällen klar oder eindeutig ist. Gesetze müssen ausgelegt, Initiativen interpretiert, Vorstösse erläutert und Abstimmungsergebnisse erklärt werden. An dieser Auslegung nehmen verschiedene Akteure teil: die Bevölkerung, die Politiker im eigentlichen Sinne, also jene, die ein Amt oder Mandat besitzen, schliesslich die Wissenschaft und die Medien. Ziel dieser Auslegungsprozesse ist ein gemeinsames Verständnis darüber, was die Akteure mit ihren politischen Handlungen beabsichtigen. Nur so entsteht Berechenbarkeit und Vertrauen. Friedliche, harmonische Beziehungen zeichnen sich durch eine hohe gegenseitige Lesbarkeit aus. Es ist dabei ausdrücklich nicht notwendig, dass die Akteure übereinstimmen. Wichtig ist nur, ob die Zeichen verlässlich zu deuten sind. Der politische Prozess wird die verschiedenen Absichten und Interessen in einen Ausgleich bringen. Man sucht den Kompromiss, oder, wenn er nicht möglich ist, eine Abstimmung, die klärt, wer die Mehrheit hinter sein Anliegen bringen kann.

Man kann sich vorstellen, wie entscheidend diese Lesbarkeit in einer freiheitlichen Demokratie ist. Wenn jemand versucht, seine wahren Absichten zu verbergen und nicht, wie die Redensart sagt, mit offenen Karten spielt, dann sät er Misstrauen und zerstört den gemeinsamen Boden, auf dem sich eine gemeinsame Lösung finden lässt.

Korruption ja, Burka nein

Voraussetzung dafür ist natürlich, dass sich die jeweiligen Absichten lesen lassen. Und genau das ist immer seltener der Fall. So hat in Jussy am vergangenen Sonntag eine deutliche Mehrheit der Stimmberechtigten einen gewissen Pierre Maudet als seinen eigenen Nachfolger ins höchste Amt, den Staatsrat, gewählt. Die Wahl wurde notwendig, weil ihn seine Kolleginnen und Kollegen Schritt für Schritt entmachtet und isoliert hatten, bis Maudet schliesslich zurücktrat – um im gleichen Zug als sein eigener Nachfolger anzutreten. Einige Wochen vor der Wahl hatte ein Gericht Maudet erstinstanzlich wegen Vorteilnahme verurteilt, weil er sich vom Emir der Vereinigten Arabischen Emirate hatte schmieren lassen. Maudet hatte gelogen, die Partei hatte ihn ausgeschlossen – aber all das schien für die Stimmberechtigten in Jussy kein Problem zu sein. Sie wählten ihn trotzdem. Oder gerade deswegen? Wie auch immer – allein waren sie in ihrem Ansinnen nicht. Herr Maudet erreichte im kantonalen Endergebnis mit fast 30'000 Stimmen den zweiten Platz und schaffte es damit bravourös in den nächsten Wahlgang.

Was hat diese Wahl, was hat dieses Verhalten der Stimmberechtigten zu bedeuten? Warum wählen die Genferinnen und Genfer einen korrupten, verlogenen Politiker in den Staatsrat? Was versprechen sie sich davon? Nur die wenigsten Beobachter glauben, dass es ihnen darum ging, einen ihrer Meinung nach fähigen Politiker zurück in die Regierung zu bringen, damit er sich dort für ihre Interessen starkmacht. Nein, diese Wahl ist eine Nachricht – aber leider ist ihr Inhalt so unbekannt wie der Adressat.

Ein Denkzettel? Aber für wen?

Wenn es ein Denkzettel ist – an wen richtet sich die Botschaft? An jene Politiker, die ihr Amt ausüben, ohne sich schmieren zu lassen? Wollen die Wähler ihnen sagen, sie sollen es Maudet gleichtun und ebenfalls die Hand aufhalten, wenn ein Emirat mit der Kasse klingelt? Oder ist es ein Hinweis an die ehemaligen und möglicherweise zukünftigen Kolleginnen und Kollegen im Staatsrat, die diesen Mann in den letzten Monaten Stück um Stück entmachtet hatten? An das Gericht, das ihn verurteilt hat? An die Partei, die ihn ausgeschlossen hat? An die Demokratie als solche? Ist es vielleicht eine Nachricht an Gott, der solche Zustände überhaupt zulässt?

Gegen die Burka, aber wieso?

Vor ähnliche Rätsel stellt uns die Initiative über das Verhüllungsverbot, die an jenem selben Sonntag von einer Mehrheit der Stimmberechtigten in einer nationalen Wahl angenommen wurde. Man hat die Initiative in die Kategorie der Symbolpolitik gestellt – aber für welchen Inhalt dieses Symbol steht, ist ganz und klar ungeklärt. Obwohl die Initiantinnen und Initianten es im Rahmen ihrer Propaganda behauptet haben, geht es ihnen nicht um die Befreiung der vom Islam unterdrückten Frauen. Kein Mensch glaubt vernünftigerweise an eine Frau, die sich seit Jahren von ihrem islamistischen Mann und ihrer Burka befreien wollte und sich nun endlich mit dem Hinweis auf dieses neue Gesetz, das sie dazu zwinge, zum ersten Mal unverschleiert auf eine schweizerische Strasse traut. So dumm ist niemand. Nein, die Mehrheit der Bevölkerung empfinde, so hörte man oft, ein allgemeines Unbehagen gegenüber dem Islam, das hier eben zum Ausdruck komme. Aber wie sich dieses Unbehagen mit einen Minarett- und jetzt mit dem Burkaverbot vertreiben lässt, bleibt unerklärt.

In der politischen Kultur der Schweiz gibt es die Tradition, Entscheidungen des Stimmvolks nicht zu kritisieren. Das hat gute Gründe und funktioniert, wenn die Entscheidungen vernünftig sind. Die Verlierer akzeptieren das Verdikt und die eigene Niederlage. Die politische Auseinandersetzung wird beigelegt, man kümmert sich um die nächsten Probleme. Aber diese Mechanik greift immer weniger.

Denn in Jussy wurde nicht nur der korrupte Pierre Maudet gewählt. Die Stimmberechtigten votierten gleichzeitig für das Burkaverbot. Diese Genferinnen und Genfer wählen einen Politiker, dem die Freundschaft mit den islamistischen, reaktionären und frauenfeindlichen Emiren zum Verhängnis wurde. Und gleichzeitig wollen sie die Vollverschleierung verbieten. Das versteht niemand. Diese Politik hat keinen rationalen Grund, auch kein Interesse, sie erschöpft sich in einem willkürlichen Gestus, dessen Wirkung für unsere auf Vertrauen und Vernunft bauende freiheitliche Demokratie fatal ist.

In der Einführung zu seinem wichtigsten Werk «Les Tragiques» beklagt Agrippa d’Aubigné die Gewalt seiner Zeit, das Blut an den Händen jener, die unter dem Zeichen der Freiheit ihre Unmenschlichkeiten begehen, und er findet einen klaren Grund dafür: «La différence du vrai et du mensonge est comme abolie» – der Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge ist quasi aufgehoben.

Alle, die finden, Lügen und Betrügen sei kein Problem, auch nicht in einem Staatsamt, und all jene braven Christen, die so borniert und verantwortungslos sind, dass sie ihr politisches Süppchen mit dem billigsten Ressentiment gegen eine Religion kochen, von der sie keine Ahnung haben, mögen sich an die Worte dieses grossen Dichters erinnern. In Jussy ist er gestorben, zum ersten Mal am 9. Mai 1630 und zum zweiten Mal am vergangenen Sonntag, dem 7. März 2021.

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