Vor einem Jahr ging unser altes Leben zu Ende. Irgendwann in jener Zeit vor zwölf Monaten drückten wir das letzte Mal bei der Begrüssung und beim Abschied die Hände, schmatzten zum letzten Mal drei Küsse auf die Wange von jemandem, den wir kaum kannten. Wir fuhren zum letzten Mal mit einer Erkältung zur Arbeit, niesten und husteten im Tram ohne Schamgefühle. An irgendeinem unbekannten Abend vor Jahresfrist drängelten wir noch einmal an der Theaterkasse, um eine Karte für die ausverkaufte Premiere zu ergattern. Im Stadion, während wir die Fangesänge brüllten, war uns das letzte Mal die feuchte Aussprache des Nebenmannes nur unangenehm. Dasselbe mit dem Gedränge im Feierabendverkehr: keine Gefahr, es nervte bloss. Am Wochenende besuchten wir unsere betagten Eltern und ärgerten uns zum letzten Mal darüber, wieder einen Sonntag im tristen Altersheim an undankbare Greise verschenkt zu haben.
Dann, plötzlich, fast lautlos, schloss sich hinter uns eine Tür. Das bisherige Leben verschwand und mit ihm ein Repertoire an körperlichen Gesten, ein Katalog des sozialen Verhaltens. Die Gewohnheiten, die geliebten und die unangenehmen, waren weg. Die bisherigen Lebensroutinen: unerreichbar.
Wie ahnungslos wir in unserem alten Leben doch waren
Erstaunlich, wie schnell wir uns in die neue Wirklichkeit fanden – aber noch viel erstaunlicher ist die Ahnungslosigkeit, mit der wir durchs alte Leben getorkelt waren. Noch unmittelbar vor dem Bruch, bevor die Tür endgültig ins Schloss fiel, hatten wir nicht die leiseste Ahnung, was mit uns geschehen würde.
Mitte Februar des vergangenen Jahres war die Pandemie hierzulande kaum ein Thema. Die Sonntagszeitungen berichteten über den Rücktritt des Direktors einer Grossbank. Er hatte einen Untergebenen durch Privatdetektive bespitzeln lassen. In den USA überstand Präsident Trump das erste Impeachment. Seiner Wiederwahl im Herbst, so schrieben die Kommentatoren, stehe nichts mehr im Weg. Joe Biden? Eine politische Leiche. Der 77-jährige Veteran des politischen Betriebs hatte bei den Vorwahlen bloss sechs Prozent der Wählerstimmen geholt. Das bedeutete den vierten Platz und für die meisten Beobachter das Ende seiner Hoffnungen im Rennen um das Weisse Haus.
Corona? Das war eine Geschichte aus China. Die «Diamond Princess», ein Kreuzfahrtschiff, das man unter Quarantäne stellte, hielten wir für eine aussergewöhnliche Sache. Irgendwann der erste Tote in Europa, ein chinesischer Tourist in einer Pariser Klinik erlag der Krankheit. Dann gab es die ersten Erkrankungen in Norditalien. Auch jetzt blieb es für die meisten Schweizer eine Affäre, die das Ausland beschäftigte. Bloss ein Tessiner Kantonsarzt wurde unruhig. Das Bundesamt für Gesundheit wiegelte ab. Der Mann, der in den Monaten darauf zum Gesicht der Krise werden sollte, meinte noch Ende Februar, für die Schweiz würden sich weitere Massnahmen erübrigen. Die Lombardei untersagte Veranstaltungen, schloss Schulen und öffentliche Gebäude. Nur ein lokaler Ausbruch, meinte Mister Corona, keine Epidemie. Grenzschliessungen bezeichnete er als ineffiziente Massnahme. Es sei falsch, alle Menschen aus Norditalien unter Generalverdacht zu stellen. Grund für Panik gebe es für die Bevölkerung nicht, und auch Anfang März war der Verzicht auf den Händedruck erst eine behördliche Empfehlung. Von Masken sprach niemand. Die Schweizer Bevölkerung vertraute den Behörden. Obwohl sich in der letzten Februarwoche in Italien innert Wochenfrist die Zahl der Infektionen verzehnfacht und die Todesfälle um den Faktor sieben gestiegen waren, hielten laut einer Umfrage mehr als vierzig Prozent das Virus für eine bloss geringe bis sehr geringe Gefahr.
Und die Schweiz? Fühlte sich sicher
Schon damals offenbarte sich eine Einstellung, die in den kommenden Monaten für viele Menschen fatale und oft tödliche Folgen haben sollte. Für das Ausland schätzen fast vierzig Prozent der Befragten die Gefahr als hoch oder sehr hoch ein, für die Schweiz allerdings erkannte weniger als ein Fünftel ein Problem.
Man hielt sich hierzulande für gut gerüstet. Die Schweiz ist schliesslich Weltmeisterin der Organisation. Das produktivste Land des Universums. Hier funktioniert immer und überall alles besser als überall sonst. Fehler haben wir in der Schweiz mittlerweile ausgerottet. Es ist das sicherste, effizienteste, kurzum das beste Land der Welt. Das Gesundheitssystem ist ohne Beispiel. Es gab deshalb vor einem Jahr keinen Grund, sich zu fürchten. Die Bevölkerung genoss die sonnigen Märztage auf den Skipisten. Die Terrassen war gut besucht, um nicht zu sagen überfüllt.
Ja, es gab einige Stimmen, die diese Sorglosigkeit für gefährlich hielten und Böses ahnten. Ihnen schien es kein gutes Zeichen zu sein, dass die Ärzte ihre Fälle mit dem Faxgerät nach Bern melden mussten und zum ersten Krisengipfel des Finanzministers nur die Grossbanken geladen waren, darunter auch jene Institution, die eben noch den CEO entlassen hatte. Jetzt durfte die Bank mit Hilfe von Notkrediten die Schweiz und gleichzeitig das lädierte Image retten. Einige Nörgler meinten schon damals, das Geld würde wohl nicht den Menschen zugutekommen, sondern über die Mieten direkt zu den Banken fliessen. Aber diese Kerle hatten eben keine Ahnung von Wirtschaft, und ihre Lästereien wurden in den kommenden Monaten übertönt von patriotischen Gesängen. So meinte ein Politologe Anfang Juni, bei der Bewältigung von Corona zeige sich endlich wieder das «Genie der Schweiz». «Wir können Corona», triumphierte im Mai der Gesundheitsminister, und in einem unvergesslichen Auftritt meinte die Bundespräsidentin in ihrer Ansprache zum Nationalfeiertag, die Schweiz lebe die Solidarität, die Schweiz «verhäbt», sie halte stand und halte zusammen. Ob man ihr gesagt hatte, dass dieser Ausdruck, sich verheben, im Hochdeutschen genau das Gegenteil bedeutete, nämlich sich überheben?
Die einzig richtige Haltung heisst Demut
Überheblichkeit ist niemals eine Tugend, aber während einer Pandemie ist sie tödlich. Das ist die wichtigste Lehre aus dem ersten Jahr der Krise. Und: Niemand kennt die Zukunft, kein Politiker, kein Epidemiologe und auch kein Schriftsteller. Wir wissen nicht, was mit uns geschieht.
Die richtige Haltung ist deshalb Demut, nicht Arroganz. Die heilende Sprache ist jene des Mitgefühls, nicht des Funktionierens. Der erfolgreiche Umgang mit Fehlern ist das offene Ansprechen, nicht das Verleugnen. Ein produktiver, selbstbewusster Umgang mit Kritik heisst diese Kritik willkommen.
Im vergangenen Jahr haben wir viel verloren. Uns fehlen fast neuntausend Mütter, Väter, Brüder, Schwestern, Söhne und Töchter. Unser Vertrauen in die Politik und in die Wirtschaft ist beschädigt. Aber wir haben kein Recht zu resignieren. Niemals verlieren dürfen wir unsere Zuversicht. Warten auf bessere Zeiten hilft nicht. Nostalgie ist keine Strategie. Das alte Leben wird nicht zurückkommen, wir können nur, einerlei wie schwierig die Umstände auch sein mögen, daran gehen, uns ein neues zu schaffen.
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