Lukas Bärfuss über das Coronavirus und die Macht des Staates
Covid-19 oder die Politik des Birnenschüttelns

Die Corona-Krise führt uns eindrücklich vor Augen, wie wichtig ein mächtiger Staat ist und wie nebensächlich das jahrzehntelang gepredigte Ideal der Wettbewerbsfähigkeit. Das Einzige, was uns jetzt hilft, ist Kooperation.
Publiziert: 07.03.2020 um 13:48 Uhr
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Aktualisiert: 16.04.2021 um 18:23 Uhr
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Jahrelang wurde auch in der Schweiz gebetsmühlenartig wiederholt, dass die Politik das Primat an die Wirtschaft verloren habe, schreibt Lukas Bärfuss.
Foto: Philippe Rossier

Es sind merkwürdig ruhige Zeiten. Das Gefühl der Belagerung macht sich breit. Man hört den Lärm, vernimmt die Hektik – und versinkt gerade deswegen in beinahe apathische Ruhe. Die Fälle kommen näher. Im örtlichen Spital werden die ersten Kranken gepflegt. Was bedeutet das? Wuhan oder Zürich – medial ist dies schliesslich fast ununterscheidbar. Es ist schwierig, den Grad der Bedrohung zu erfassen. Gerade deshalb wird alles andere nebensächlich, einerlei, wie viel faktische Bedeutung es eigentlich hat. Krieg in Syrien? Hatten wir schon. Flüchtende an der EU-Aussengrenze? Ein alter Hut. Nur eine neue Bedrohung versetzt uns nachhaltig in Angst.

Was immerhin sicher ist: Die Zukunft verspricht nichts Gutes. Die Zeit ist nicht auf der Seite der Menschen. Ebenfalls beständig und treu sind die offenen Fragen: Wann wird es vorbei sein? Wie schlimm wird es werden? Wann wird es jemanden treffen, den man kennt und liebt?

Fatalisten sind in diesen Zeiten eindeutig im Vorteil. Die anderen reden sich gut zu und bekämpfen die Angst mit Statistiken. Noch sind die absoluten Zahlen nicht besonders hoch, im Vergleich etwa zu den Opfern von Verkehrsunfällen. Allerdings sind Verkehrsunfälle nicht ansteckend – das ist der Unterschied. Und die neue Gefahr beseitigt kein altes Risiko.

Neu? Neu ist diese Erfahrung nur für unsere Generation. Für die Menschheit ist sie eine Konstante. Unter Freunden spricht man deshalb über die Bücher, die man jetzt wieder lesen sollte. Die Liste ist lang. «König Ödipus» von Sophokles, Albert Camus’ «La peste» und natürlich auch Daniel Defoes «A Journal of the Plague Year», erschienen im Jahre 1722. Alles viel zu lange her. Das kann man nicht vergleichen. Man ruft es sich aufmunternd zu. Wer dann allerdings die ersten Seiten liest, stellt beklommen fest, dass es damals wie heute begonnen hat: mit Gerüchten, mit vagen Neuigkeiten, die unter den Nachbarn die Runde machten. Beim Autor von «Robinson Crusoe» war es Holland, woher die ersten Meldungen kamen, Amsterdam, danach kamen die Fälle immer näher, bis sie schliesslich die eigene Stadt, London, erreichten.

Alte Gewissheiten lösen sich auf

Man legt das Buch zur Seite und tröstet sich mit der Gewissheit, dass die Medizin heute wirksamere Mittel besitzt als im 17. Jahrhundert. Allerdings: Es ist eine tägliche Erfahrung, wie schnell sich alte Gewissheiten zurzeit in Luft auflösen – im Guten wie im Schlechten. Das Gerede vom Cyberspace, von den virtuellen Räumen zum Beispiel. Sie scheinen deutlich weniger wichtig zu sein als bisher angenommen. Menschen sind immer noch soziale Wesen, und sie brauchen zuerst wirkliche Räume. Sie wollen sich leibhaftig sehen, persönlich sprechen. Der physische Kontakt ist unersetzlich, in der Wirtschaft und in der Politik, in der Liebe wie in der Kunst.

Was uns stark macht, macht uns auch verletzlich.

Daraus folgt eine weitere Erfahrung, die man im Angesicht einer Krankheit macht – die Gegensätze schliessen sich nicht aus, sie bedingen und umarmen sich. Und wie jede Krise führen Krankheiten oft zu einer neuen Umwertung, zu neuen Hierarchien. Oder sie machen die wirklichen Hierarchien erst sichtbar. Was man für wichtig hielt, wird nebensächlich – und umkehrt.

Da ist zum Beispiel die Sache mit dem Staat. Wie oft wurde in den letzten Jahrzehnten sein Bedeutungsverlust begrüsst und beklagt. Er habe das Primat an die Wirtschaft verloren, das war allgemeines, kaum hinterfragtes Wissen. Jedenfalls bis vor einigen Tagen. Da trat in der Bundesstadt ein einigermassen unscheinbarer Herr mittleren Alters vor die Presse und hob von einem Augenblick auf den anderen mit einem performativen Sprechakt die Grundrechte auf. Artikel 31 der Schweizerischen Bundesverfassung, die Handels- und Gewerbefreiheit: leider ausgesetzt. Artikel 22, die Versammlungsfreiheit: bis auf weiteres ungültig. Der Innenminister gab dies ruhig und mit einem leisen Bedauern in der Stimme bekannt, aber er liess keinen Zweifel an der unbedingten Notwendigkeit der angekündigten Massnahme.

Kaum Kritik

Allein dieser Moment war einzigartig und ohne Beispiel. Noch erstaunlicher waren allerdings die Reaktionen auf diesen Erlass. Das Dekret wurde über sämtliche Kanäle verbreitet und sofort umgesetzt – diskutiert oder kommentiert wurde es hingegen kaum. Kritik verbot sich.

Noch wenige Wochen vorher hatte man beklommen nach China geblickt, als die dortige Regierung mit einem Handstreich eine Millionenmetropole kurzerhand zur Sperrzone erklärte und die gesamte Bevölkerung unter Quarantäne stellte. Das Reich der Mitte ist eben eine Diktatur, so sagte man sich, die können das, die sind nicht von falschen Empfindlichkeiten angekränkelt. Aber kurz darauf wurde dasselbe im liberalen, demokratischen Italien angeordnet, in einem Land zudem, das berüchtigt ist für seinen schwachen Staat und die notorische Handlungsunfähigkeit der Regierung. Dieselbe staatliche Autorität, dieselbe gehorsame Bevölkerung. Die Bevölkerung nickt und ist dankbar, dass keine drastischeren Massnahmen notwendig werden.

Nun wissen wir also. Die Macht des Staates ist absolut. Er besitzt das Primat. Er bestimmt über den Ausnahmezustand. Und sollte jemand daran zweifeln, so möge er sich die Meldung der schweizerischen Armeeführung in Erinnerung rufen. In perfekter formaler Höflichkeit und Zurückhaltung lässt man die geneigte Öffentlichkeit wissen, dass die Streitkräfte den zivilen Behörden selbstverständlich mit Hilfsdiensten zur Verfügung stehen würden, falls es denn nötig sein sollte. Und jeder versteht, dass mit Hilfsdiensten nicht nur ein paar WK-Soldaten gemeint sind, die den Verkehr regeln oder Suppe ausschöpfen. Und jeder versteht auch, wann diese besonderen Dienste nötig werden würden. Die Ruhe und die Ordnung, davon sollte jeder ausgehen, wird mit allen Mitteln aufrechterhalten werden.

Nur Kooperation hilft

Eine andere Behauptung, die jede Glaubwürdigkeit verloren hat, betrifft die Wettbewerbsfähigkeit. Jenseits aller politischen Bekenntnisse war dieser Begriff der Heilige Gral der modernen Gesellschaft. Mache dich und deine Gesellschaft tüchtig, um in der globalen Konkurrenz bestehen zu können! Nur so wird der Wohlstand wachsen, nur so wird die Wirtschaft prosperieren. Das war das Credo. Die letzten Wochen haben das Gegenteil bewiesen. Was uns erfolgreich macht, ist nicht die Konkurrenz, es ist natürlich die Kooperation. Zusammenarbeit ist der Weg zum Reichtum. Nur wenn sich unsere Energie-, Technologie- und Informationssysteme nahtlos ineinanderfügen, entsteht eine prosperierende Gesellschaft.

In einer hochspezialisierten Gesellschaft braucht jeder den anderen, ist jeder auf den anderen angewiesen. Es verhält sich wie in der Geschichte vom Joggeli, der vom Meister ausgeschickt wird, um Birnen zu schütteln. Aber der will nicht, und deshalb schickt der Meister den Stock aus, um den Joggeli zu schlagen, aber der Stock will auch nicht, und deshalb muss das Feuer los, um den Stock zu brennen, aber ach – auch das Feuer will nicht. Danach streiken nacheinander das Kalb und der Metzger, und erst als der Meister selbst zum Rechten sieht, fühlt sich der Metzger genötigt und will dem Kalb Beine machen, worauf auch das Wasser und das Feuer und der Stock und schliesslich auch der Joggeli sich ihrer Aufgabe erinnern. Wenn einer in der Kette seinen Dienst verweigert, werden am Schluss keine Birnen im Korb liegen.

Aus diesen Erfahrungen könnte ein neues politischen Bewusstsein entstehen: Es gibt keine faktische Grundlage für das Gefühl der politischen Ohnmacht, das sich in den letzten Jahren verbreitet hat, im Gegenteil.

Wenn viele kleine Räder notwendig sind, damit die Maschine läuft, dann hat auch die kleinste Schraube plötzlich ein Vetorecht, trägt Verantwortung und damit auch Macht. Die Einsicht in die Macht des Staates und gleichzeitig in jene des einzelnen Menschen: Das wäre die hoffnungsvolle Lektion in diesen unsicheren Zeiten.

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