Lukas Bärfuss über die Post-Covid-Gesellschaft
Das kommt nach der Pandemie auf uns zu

Drei Lebenshaltungen werden die Post-Covid-Gesellschaft prägen: die Genusssucht, die Verzichtskultur und jene, die alles der Wirtschaft unterordnet. Sie befeuern einander gegenseitig – und sind eine Bedrohung.
Publiziert: 15.05.2021 um 19:04 Uhr
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Es wird Zeit, dass wir uns über die Gesellschaft nach der Pandemie Gedanken machen, schreibt Lukas Bärfuss.
Foto: Philippe Rossier
Lukas Bärfuss

Vor anderthalb Jahren, ganz zu Beginn der Corona-Krise, beschwor uns der nüchterne Verstand, dass es nur zwei Auswege gibt: entweder Ansteckung oder Impfung. Im Sommer 2021 werden wir diesem Ausgang und der Herdenimmunität nahe sein. Es ist an der Zeit, sich langsam einige Gedanken über die kommende Zeit, über die Ära der Postpandemie zu machen.

Eine bleibende Folge, mit der wir uns auseinandersetzen müssen, ist die Beschädigung dessen, was man früher unter dem Begriff «Gesellschaft» kannte. Die res publica, die öffentliche Sache, die das Selbstverständnis des aufgeklärten, freiheitlichen Staates definierte, schwindet als Wirklichkeit und als Idee. Als Wirklichkeit durch die vielfältigen Angriffe auf die öffentlichen Institutionen von innen und von aussen. Als Idee durch den Mangel an Lebenspraxis und den Verlust an Status, Anerkennung und Identifikationspotenzial durch eine soziale Identität.

Drei Lebensentwürfe brauchen einander gegenseitig

Dies befördert drei Lebenshaltungen, die seit langer Zeit bestehen, in der Zukunft jedoch alles dominieren werden. Sie brauchen keine gemeinsame Öffentlichkeit. Sie definieren sich entweder jenseits der res publica oder sogar in eindeutiger Abgrenzung dazu.

Der postpandemische Hedonismus findet für sein Lebensmodell viele und überzeugende Rechtfertigungsgründe. Da ist zuerst ein Staat, mit dem die Bürgerinnen und Bürger während der Corona-Krise zwei widersprüchliche Erfahrungen gemacht haben. Einerseits hat er seine Autorität bewiesen. Gewerbe- und Versammlungsverbote, Ausgangssperren und Kleidervorschriften – mit Notverordnungen wurden von einem Tag auf den anderen tiefe Eingriffe in die Grundrechte ohne nennenswerten Widerstand durchgesetzt.

Hier, bei der Hardpower, hat der Staat seine Hoheit bewiesen. Gleichzeitig erlitt er einen Verlust an Softpower: Die Bindungskraft durch Sinnstiftung hat er weitgehend verloren. Das hat er sich selbst zuzuschreiben. Die politische Kommunikation verzichtete auf einen Appell an die gemeinsame Verantwortung. Er gab kein Versprechen, für den Ausgleich der Interessen und den Schutz der Schwachen zur sorgen. Frühere Generationen nahmen Krisen und Katastrophen als Anlass, die nationale Solidarität zu fördern und das Gefühl der Zusammengehörigkeit zu stiften. In dieser Pandemie war dies niemals ein strategisches Ziel. Eine mitfühlende Kommunikation fehlte. Man hielt es nicht für nötig, Begriffe wie Eintracht, Gemeinsinn und Fürsorge ins Gespräch und zur Sprache zu bringen. Die Politik fürchtete die finanzielle und soziale Verpflichtung, die damit verbunden gewesen wäre.

Kakophonie und ein bösartiges Hickhack zwischen den föderalen und zivilgesellschaftlichen Strukturen waren die Folge. Gefangen in einer Logik des Funktionierens, delegierte die Regierung die Verantwortung immer weiter nach unten, bis sie schliesslich vor den Füssen des einzelnen Bürgers landete.

Warum an die Gesellschaft denken, wenn auch die Politik das Kollektiv vergisst?

Wer will es deshalb den Hedonisten und Hedonistinnen verargen, wenn sie sich in Zukunft radikal und ausschliesslich um sich selbst kümmern? Ein schlechtes Gewissen brauchen jene, die hemmungslos der eigenen Lustbefriedigung und dem persönlichen Wohl frönen, nicht zu fürchten.

Den Appellen zur Mässigung fehlt es an Glaubwürdigkeit. Warum sollte jemand auf das Kollektiv Rücksicht nehmen, wenn doch selbst die Politik während einer Pandemie dieses Kollektiv und das gemeinsame Interesse nicht mehr adressierte?

Für das vermeintliche Gegenstück der Hedonisten, den Asketen, ist gerade diese kollektive Ohnmacht der erste Artikel der inneren Verfassung. Die Aufgabe ist unmissverständlich formuliert: Die Klimaerwärmung muss gebremst, die Natur vor dem rücksichtslosen Zugriff des Menschen geschützt und der Planet vor der totalen Zerstörung gerettet werden. Da es aber eben an einer kollektiven Kraft ermangelt, fällt die Aufgabe nicht der Gesellschaft, sondern jedem Einzelnen zu. Von der Ohnmacht in die Wirksamkeit – so lautet die asketische Selbstermächtigung.

Verzichtsfetisch kann zu Radikalisierung führen

Ihr Instrument ist die Abkehr von der Welt, und das bedeutet: Abkehr von Fleisch und Erdöl. Diesen beiden Ingredienzien des kapitalistischen Lebensstils muss abgeschworen werden. Die Asketinnen und Asketen wenden sich von den diesseitigen Verlockungen ab und rechnen dafür mit jenseitigen Belohnungen. Die kommenden Generationen werden von den Einschränkungen profitieren. Allerdings werden die Asketen nicht direkt profitieren. Dieser Anerkennungsmangel will kompensiert werden: durch ein gesteigertes Sendungsbewusstsein und eine Befestigung der eigenen Identität durch Verdammung jener, die nicht dem asketischen Ideal folgen. Auch hier neigt Askese zur Radikalisierung. Darin liegt ihre hauptsächliche Gefahr.

Auch die dritte Position verfügt über Argumente, die nur schwer zu widerlegen sind. Schliesslich hat den Totalökonomen die Pandemie ein weiteres Mal das Primat der Wirtschaft bewiesen. Die gesellschaftlichen Verwerfungen in den letzten zwanzig Jahren waren umfassend. Der 11. September 2001, die Bankenkrise von 2008, die gesellschaftliche Transformation durch die Digitalisierung und jetzt eben die Pandemie – vordergründig blieb kein Stein auf dem anderen. An der grundlegenden Ordnung änderte sich hingegen nichts, mehr noch, sie wurde weiter zementiert. Was immer auch geschah, die Reichen wurden reicher und die soziale Ungleichheit wuchs. Daraus entsteht das Evangelium der Totalökonomie: Imperien mögen zusammenfallen, verlässlich ist nur die Macht des Kapitals, alleine darin liegt das Heil.

Leistung und Verdienst zählen in der Wirtschaft nicht mehr

Die Pandemie wird in den öffentlichen Haushalten grosse Löcher hinterlassen. Die kommenden Jahre und Jahrzehnte werden von einem gnadenlosen Verteilkampf geprägt sein, national und global. Die Priorität der Totalökonomen und Totalökonominnen ist in dieser Logik ganz und gar vernünftig. Jede Anstrengung muss dem Ziel dienen, ein möglichst grosses Stück des Kuchens zur Seite zu schaffen. Die Assets sind längst bewertet. Bildung und Leistung verlieren, Kapital- und Grundbesitz gewinnen. Vermögen wird nur noch vererbt, nicht mehr erarbeitet. Die Meritokratie, in der Leistung und Verdienst zu gesellschaftlichem Aufstieg führen, gehört schon bald als nostalgische Erinnerung endgültig ins Poesiealbum der Geschichte.

Postpandemischer Hedonismus, neue Askese und die Totalökonomie: Diese drei Entwürfe bilden keine Gegensätze – sie bedingen sich gegenseitig.

Die Totalökonomen werden den Hedonisten die Güter liefern, um deren Lust zu befriedigen. Gleichzeitig ermöglichen die Hedonisten jenen Totalökonomen, die zwar Ideale und Ziele haben, aber leider nicht über die Mittel verfügen und deshalb bis zur Selbstauflösung ackern müssen, eine jederzeit verfügbare Lebensalternative. Der Preis dafür ist die Verschuldung – gerade in der Schweiz das erste Mittel zur Finanzierung des Konsums. Die Privatverschuldung liegt im Vergleich zur Wirtschaftsleistung doppelt so hoch wie in der Eurozone. Und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sich dies ändern wird. Hedonisten lieben Kreditkarten. Doch stellen sie auch ein Gut her. Sie versorgen die Asketen mit einem abschreckenden und sinnstiftenden Beispiel. Nur die Verantwortungslosigkeit der Hedonisten verschafft dem Daseinsentwurf der Askese die innere Stabilität.

Während die Hedonisten sich die günstigsten Leasingverträge besorgen, traden die Totalökonomen im Online-Börsenhandel und möblieren die Asketen ihre Tiny Houses. Und alle pflegen sorgsam ihre gegenseitigen Abgrenzungsneurosen. Und doch sind sie sich in einer Sache verblüffend ähnlich. Sie alle definieren sich ohne Gesellschaft. Eine Identität als Bürger und Bürgerinnen würde ihr eigenes Selbstbewusstsein untergraben. Sie brauchen weder Staat noch Öffentlichkeit. Und mit jedem Tag arbeiten sie weiter an der Befestigung ihrer individuellen und am Abbruch der sozialen Identität.


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