Niall Ferguson ist am Handy. Er sitzt in einem getäferten Salon der Universität Zürich, wo er später auf Einladung des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung einen Vortrag halten wird. Er chattet mit seiner Frau, der Autorin Ayaan Hirsi Ali (51), die gerade in Rom festsitzt. Ferguson seufzt und legt das Handy auf den Tisch.
Wie war Ihre Ankunft in Zürich-Kloten?
Niall Ferguson: Äusserst unkompliziert. Ganz im Gegensatz zu jener meiner Frau in Rom, die dort gerade ihren Anschluss verpasst hat, weil es so viele Formulare auszufüllen gab. Reisen ist schrecklich geworden. Und man kann richtiggehend spüren, dass die Bürokraten an all diesen Massnahmen festhalten werden, selbst wenn Covid mal vorbei sein sollte. Mein Rat an alle: Bleiben Sie zu Hause.
Wir haben schon von Reisenden gehört, die in Italien gar nichts vorweisen oder ausfüllen mussten.
Genau das kennzeichnet die europäische Bürokratie aus: Willkür. Die Regeln sind da, aber man weiss nie, wann sie umgesetzt werden.
Sie schreiben in Ihrem Buch «Doom», dass nicht Politiker wie Boris Johnson oder Donald Trump an dem Versagen im Kampf gegen Covid Schuld tragen, sondern mittlere Beamte in der Verwaltung.
Die Beamten arbeiten in Strukturen, die heute nicht mehr funktionieren, weil sie aufgebläht sind und sie sich nebst ihren Kernaufgaben auch noch um Diversität, Gleichheit und Inklusion kümmern müssen.
Aber Sie wollen uns doch nicht sagen, dass politische Führer nichts vermasseln können.
Natürlich können sie das. Aber gemäss meiner Analyse sind jene Fehler, die im letzten Jahr zu den hohen Mortalitätsraten geführt haben, nicht von den Top-Politikern gemacht worden. Nehmen wir den Fall Brasilien …
Wo Jair Bolsonaro das Coronavirus bis heute leugnet!
Ja, aber es ist nicht Bolsonaro, der das Impfprogramm organisiert. Politische Systeme sind viel komplexer. Auch die vielen Toten der ersten Welle in New York kann man nicht Donald Trump in die Schuhe schieben, sondern eher den lokalen Behörden. Aber für viele Journalisten war die Versuchung zu gross, ihm die Schuld an Covid anzulasten. Das hat dazu geführt, dass die entscheidende Frage nicht gestellt wurde.
Niall Ferguson ist einer der bekanntesten Historiker der Gegenwart. Er hat Standardwerke zum Ersten und Zweiten Weltkrieg, zur Familie Rothschild und zur Geschichte des britischen Empires geschrieben. Auch der Aufstieg und Niedergang des Westens beschäftigte ihn in zwei Büchern. In «Türme und Plätze: Netzwerke, Hierarchien und der Kampf um die globale Macht» untersuchte er die Geschichte menschlicher Netzwerke.
Ferguson forscht an der Hoover Institution in Stanford, Kalifornien. Er hat unter anderem auch schon in Harvard und Oxford gelehrt. Der Schotte ist mit der niederländisch-amerikanischen Frauenrechtlerin und Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali verheiratet.
Niall Ferguson ist einer der bekanntesten Historiker der Gegenwart. Er hat Standardwerke zum Ersten und Zweiten Weltkrieg, zur Familie Rothschild und zur Geschichte des britischen Empires geschrieben. Auch der Aufstieg und Niedergang des Westens beschäftigte ihn in zwei Büchern. In «Türme und Plätze: Netzwerke, Hierarchien und der Kampf um die globale Macht» untersuchte er die Geschichte menschlicher Netzwerke.
Ferguson forscht an der Hoover Institution in Stanford, Kalifornien. Er hat unter anderem auch schon in Harvard und Oxford gelehrt. Der Schotte ist mit der niederländisch-amerikanischen Frauenrechtlerin und Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali verheiratet.
Die da wäre?
Wieso hat das Gesundheitssystem in Staaten wie den USA und Grossbritannien versagt – und in Taiwan und Südkorea nicht?
Und?
Südkorea und Taiwan wussten, dass bei einer solchen Krankheit schnelles Handeln entscheidend ist. Kein westliches Land hat das verstanden.
Aber es gab in Europa Länder, die gut durchkamen. Deutschland zum Beispiel.
In so einer Krise sind die ersten, schnellen Analysen meist falsch. Seien wir ehrlich: Deutschland und auch die Deutschschweiz hatten in der ersten Welle einfach Glück.
Wollen Sie sagen, die Politisierung der Krise im Westen ist schuld an den hohen Todeszahlen?
Schauen wir zurück. In den 50er-Jahren gab es keine Bewegung gegen die Polio-Impfung. Alle wollten sie so schnell wie möglich. Nachdem ich dieses Buch fertiggeschrieben hatte, wurde mir plötzlich klar, dass die Sache heute anders liegen würde, wenn Covid Kinder töten würde. Dann gäbe es keine Anti-Impfbewegung. Doch für die Impfhasser und Verschwörungstheoretiker ist Covid perfekt, weil es Alte betrifft.
Ein weiterer Unterschied: die sozialen Netzwerke.
In den 50er-Jahren schenkte niemand seinen Freunden mehr Glauben als Experten aus der Verwaltung.
Ihre Lösung gegen die Verbreitung von Verschwörungstheorien auf Facebook und Co.?
Ein bisschen regulieren reicht nicht. Heute hat es für Netzwerkfirmen keine rechtlichen Folgen, wenn sie schädlichen Inhalt ins Netz stellen. Das muss sich ändern. Man soll sie verklagen können, wenn sie Verschwörungstheorien über das Impfen verbreiten und deswegen Hunderttausende Menschen sterben. Eine endlose Serie von Klagen, das ist die Antwort, das ist der American Way.
Aber Social Media gibt es auch in Taiwan und Südkorea, dennoch kamen sie besser durch die Krise.
Der Unterschied ist: Für ein Land wie Taiwan mit dem Nachbarn China ist es überlebenswichtig, Krisen nicht falsch einzuschätzen. Dieses Land hat eine fast schon paranoide Wachsamkeit. Als sie 2020 von einem Virus in Wuhan hörten, war die Reaktion: Moment mal, von wo? Allerdings hat der Fall Taiwan auch was Tragisches.
Wieso?
Sie waren so erfolgreich in der Bekämpfung des Virus, dass sie das Impfen vergessen haben. Als die Delta-Variante kam, waren sie ungeschützt. Aber innert weniger Wochen war der Ausbruch unter Kontrolle.
Die Schweiz hat eine andere Geschichte als Taiwan, und China ist nicht unser Nachbar.
Es ist sehr schwierig, paranoid zu sein, wenn man sich sicher fühlt. Aber wir werden alle lernen müssen, dass in einer Welt von Cyberwars Berge und Ozeane keine Verteidigung darstellen. Die erste globale Cyberattacke wird uns vor Augen führen, dass wir alle ein wenig mehr wie Taiwan sein sollten.
In der Schweiz haben wir eine der tiefsten Impfquoten Westeuropas.
Und die wohl höchsten Fallzahlen aller Länder, die ich auf dieser Buch-Reise besuche. Und dazu gehören Länder wie die Ukraine und Ungarn. Die Schweiz ist interessant. Wenn ich ein nächstes Kapitel meines Buchs schreiben müsste, dann hätte es die These: Jene, die letztes Jahr schlecht durch die Pandemie kamen, verhielten sich dieses Jahr besser – und umgekehrt. Und eine weitere Erkenntnis wäre: Es gibt kein Ende.
Wie bitte?
Ich wurde schon letztes Jahr zu Post-Pandemie-Konferenzen eingeladen! Ich antwortete: Wovon zur Hölle redet ihr? Ich hatte vor kurzem eine Eingebung. Es gab ja zu Beginn viele, die sagten: Covid ist wie eine Grippe.
Und sie hatten unrecht.
Ja, aber auf ungewollte Weise trafen sie doch einen Punkt. Bis in die 60er-Jahre explodierte die Influenza in grossen Pandemien und wurde erst danach zu diesem saisonalen Ding, das allmählich aus den News verschwand. Die Frage ist, wie lange es geht, an diesen Punkt zu gelangen.
Wie lange dauert die Pandemie noch?
Jahrzehnte. Das ist nicht der Anfang des Endes ... Es ist das Ende des Anfangs.
Das ist nun wirklich ein Stimmungskiller.
Wir sehnen uns immer nach einem Ende, wie in der Literatur und Filmen. Aber Geschichte hat oft kein Ende. Schauen Sie Afghanistan an. Die Amerikaner zogen ab und sagten: So, der Krieg ist vorbei! Aber nein. Ist er nicht. Wir müssen einfach anerkennen, dass wir noch nicht wissen, wie diese Pandemie enden wird.
Die Stimmung in manchen Teilen der Bevölkerung ist eine andere. Vielen kann es nicht schnell genug gehen, bis auch die letzten Massnahmen endlich verschwinden.
Wenn man bedroht ist, sei es durch Pandemie oder Krieg, wird die individuelle Freiheit eingeschränkt, auch wenn manche das vergessen. Man muss die Menschen dazu zwingen, sich impfen zu lassen. Genauso wie man während des Zweiten Weltkriegs die Bewohner britischer Städte zwingen musste, zum Schutz vor Bombern ihre Wohnungen zu verdunkeln.
Sind die westlichen Gesellschaften dreissig Jahre nach dem Ende des Kalten Kriegs zu verwöhnt, um diese Einschränkungen zu ertragen?
Ja. Wer sich an den Zweiten Weltkrieg erinnert, dessen Schmerzgrenze ist relativ hoch. Auch meine Generation, geboren im Kalten Krieg, hatte eine Vorstellung des möglichen Desasters in der Form von Atompilzen. Wenn ich die heutigen Studenten betrachte, sehe ich da diese Zerbrechlichkeit und die Furcht, dass Worte sie verletzen könnten.
Und doch vergleichen wir Covid gerne mit vergangenen Pandemien, oft sogar mit der Spanischen Grippe. Sie sträuben sich in Ihrem Buch gegen diesen Vergleich, warum?
Die Mortalität während der Spanischen Grippe war viel höher. Sie war in dieser Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und der Russischen Revolution auch nicht das bedeutendste Ereignis. Beim Ausbruch der Asiatischen Grippe 1957 war hingegen wie 2020 nicht besonders viel los (lacht). Auch wenn Covid relativ gesehen inzwischen mehr Menschen getötet hat, scheint mir dieser Vergleich sinnvoller.
Weil die Entscheidungsträger 2020 anders reagierten als 1957?
Komplett anders. 1957 waren Lockdowns keine Option. Niemand konnte zu Hause arbeiten. Alle mussten sich impfen lassen, so schnell wie möglich.
Das gelang.
Sie waren schneller als wir heute. Maurice Hilleman, der Entwickler des Impfstoffs gegen die Asiatische Grippe, war eine brillante Persönlichkeit. Allerdings war die Kapazität der Spitäler 1957 viel höher als 2020. Das ist sehr wichtig, denn es war der Mangel an Spitalbetten, der bei Covid zu den Lockdowns führte. Wir können die Gesellschaft herunterfahren, uns diesen Schock selbst verabreichen.
Waren die Entscheidungsträger damals kompetenter?
Nun, sie waren im Krieg gewesen. US-Präsident Eisenhower landete als Oberkommandierender der Alliierten in der Normandie, ein ziemlich guter Test seiner organisatorischen Fähigkeiten. Grundsätzlich herrschte in Amerika in dieser Zeit eine komplett andere Kultur gerade im Umgang mit Risiken. Wir würden das Land heute kaum wiedererkennen.
Aber wenn sich diese Kultur so stark von der heutigen unterscheidet, sehen Sie überhaupt eine Möglichkeit, dass unsere Institutionen wieder besser werden im Umgang mit Katastrophen?
Die rasche Entwicklung der Impfstoffe war ein Erfolg, dem grossen Versagen der Behörden zum Trotz.
Wichtig ist doch: Wir haben einen Impfstoff.
Aber nicht die Gesundheitsbehörden fanden die Lösung, sondern relativ kleine Biotech-Unternehmen, die mit akademischen Forschungseinrichtungen und Pharmakonzernen kooperierten. Das ist ein wichtiger Faktor. Akteure ausserhalb der Bürokratie erhielten die nötigen Kompetenzen. In den USA zum Beispiel war das Programm zur Entwicklung und Verteilung der Impfstoffe im Grunde militärischer Natur.
Was heisst das?
Auch wenn es hoffnungslose Aufträge erhält wie im Irak, ist das US-Militär sehr gut. Und warum ist das US-Militär so gut? Weil junge Offiziere nach dem kompletten Fehlschlag des Vietnamkriegs es neu erfanden. Wir müssen Covid als Vietnam des Gesundheitswesens im Westen begreifen, die zahlreichen Fehler der Bürokraten erkennen und beheben.
Niall Ferguson, «Doom – die grossen Katastrophen der Vergangenheit und einige Lehren für die Zukunft»