Sie haben gerade die zweite Dosis erhalten. Wie geht es Ihnen?
Nikola Biller-Andorno: Ich spüre den Arm ein wenig, aber da hab ich schon von stärkeren Reaktionen gehört. Im Kopf bin ich jedenfalls noch frisch. Ich hoffe, das hält an (lacht).
Mittlerweile kennt jeder jemanden, der starke Impf-Nebenwirkungen hatte. Wirkt sich das auf das Vertrauen aus?
Nicht, solange wir transparent sind. Ich glaube zum Beispiel, dass es gut war, dass man beim Impfstoff Astrazeneca die Gefahren von Thrombosen transparent gemacht hat.
Wieso?
Weil wir so gelernt haben, dass in der Impffrage jeder eine Nutzen-Risiko-Abwägung machen muss. Für junge Menschen ist diese Abwägung vielleicht etwas schwieriger, weil bei ihnen die Gefahr eines schweren Covid-Verlaufs nicht so gross ist. Ein älterer Mensch mit mehreren Risikofaktoren muss nicht lange über eine Impfung nachdenken.
Sie sind gegen öffentlichen Druck auf Ungeimpfte?
Ich bin nicht dafür, Leute zur Impfung zu drängen. Ich würde eher auf gute Argumente setzen.
Die Stimmen, die mehr Härte fordern, häufen sich derzeit aber. Verhaltensökonom Gerhard Fehr sagte im Blick, dass wir ohne harte Hand gegen Nichtgeimpfte niemals auf die gewünschte Impfquote von 75 Prozent kommen.
Menschen sind keine Marionetten, auch wenn das Ökonomen gerne glauben. Ich als Ethikerin will, dass die Menschen autonom entscheiden.
Nikola Biller-Andorno (50) ist Direktorin des Instituts für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte (IBME) an der Universität Zürich, ein Collaborating Center der WHO. Zusammen mit ihrem Team hat die Professorin die Plattform Publico entwickelt. Nikola Biller-Andorno lebt mit ihrer Familie im Thurgau.
Nikola Biller-Andorno (50) ist Direktorin des Instituts für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte (IBME) an der Universität Zürich, ein Collaborating Center der WHO. Zusammen mit ihrem Team hat die Professorin die Plattform Publico entwickelt. Nikola Biller-Andorno lebt mit ihrer Familie im Thurgau.
Allein mit Freiwilligkeit hätte man den Kampf gegen Corona verloren!
In der akuten Phase der Pandemie musste man schnell entscheiden, klar. Aber jetzt ist Corona zu einem chronischen Problem geworden – ich halte es in einer Demokratie für falsch, Leute wie eine Schafherde leiten zu wollen, weil man ihnen nicht zutraut, Argumente zu verstehen.
Was spricht eigentlich dagegen, einfach jedem Bürger mal einen Impftermin zuzuteilen? Den kann er ja dann immer noch ablehnen.
Wir müssen uns fragen: Ist es unser Ziel, eine maximale Zahl zu impfen? Oder die maximale Zahl von Bürgerinnen und Bürgern zu impfen, die das auch wollen? Mir ist Letzteres lieber. Wenn Sie plötzlich – ohne Registrierung – ein Impfaufgebot erhalten, dann stellen Sie sich ganz neue Fragen.
Welche?
Werde ich observiert? Kriege ich Minuspunkte, wenn ich den Termin ablehne? Diese Ängste dürfen wir nicht übersehen. Sonst gefährden wir das Vertrauen ins System. Nicht alle, die sich gegen eine Impfung entscheiden, handeln verantwortungslos.
Nicht?
Jemand, der sich heute nicht impfen lässt, gefährdet primär seine eigene Gesundheit und geht ein persönliches Risiko ein.
Aber darf eine kleine, unsolidarische Minderheit Freiheiten auf Kosten einer solidarischen Mehrheit geniessen?
Ich finde nicht, dass man Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen, pauschal als unsolidarisch bezeichnen kann. Ausserdem bin ich zuversichtlich, dass die Massnahmen weiter gelockert werden können – trotz oder gerade wegen der Delta-Variante.
Wieso?
Die Mutation wird vermutlich dafür sorgen, dass sich viele Leute impfen lassen, weil sie Covid dann lieber doch nicht bekommen wollen, sodass wir bis im Herbst hoffentlich ein ordentliches Impfniveau erreichen.
75 Prozent?
Das halte ich nicht für entscheidend.
Aber es geht doch um die Herdenimmunität?
Herdenimmunität ist ein relatives und kein absolutes Konzept. Aber wenn wir es schaffen, die vulnerablen Personen zu schützen, bin ich überzeugt, dass wir im Herbst eine Überlastung des Gesundheitssystems verhindern können – und darum geht es.
In gewissen Bereichen wird es trotzdem eine Zweiklassengesellschaft geben. Bei Grossveranstaltungen, wo man vielleicht ohne Covid-Zertifikat nicht reinkommt. Oder auch beim Fliegen. Was braucht es eigentlich, damit eine Gesellschaft eine solche Diskriminierung akzeptiert?
Solche Einschränkungen werden akzeptiert, wenn sie vorübergehend sind. Wenn es absehbar ist, dass es wieder aufhört. Ein weiterer wichtiger Punkt: Sie dürfen sich nur punktuell auswirken und nicht den ganzen Alltag der Bevölkerung umkrempeln. Dann ist das Verständnis und die Bereitschaft zur Kooperation da.
Mit der von Ihrem Institut entwickelten Online-Plattform Publico fühlen Sie mit Umfragen in Echtzeit den Puls in Sachen Corona. Was genau bemerken Sie da?
Je informierter die Leute sind, desto weniger gestresst sind sie – und umso geringer der Widerstand gegen Massnahmen.
Aber das tun Medien und BAG bereits intensiv: informieren. Und die Impfbereitschaft stagniert. Kann man überhaupt noch mehr informieren?
Man kann noch gezielter informieren. Was heute fehlt, ist das Feedback aus der Bevölkerung: Wer hat was wie verstanden? Unser Anspruch bei Publico ist, ein Feedback-Tool für die Bevölkerung zu sein.
Interessieren sich die Behörden überhaupt für diese Informationen?
Durchaus, die WHO hat die Entwicklung unseres Modells mitgesponsert. Demnächst stellen wir es beim BAG vor. Publico kann den Behörden als Fiebermesser dienen.
Sie als Ethikerin: Hat Sie überrascht, wie wir über Corona diskutieren?
Erstaunt hat mich, wie man nach Autoritäten gesucht hat, um sich an ihnen zu orientieren. Ich habe oft vom obersten so und so gelesen, der irgendetwas abschliessend einordnet. Dieses Bedürfnis hat mich überrascht.
Wieso?
Ethik funktioniert zum Glück nicht so. Wir haben uns zum Glück von der Idee verabschiedet, dass gewisse Personen das absolute Wissen haben – und allen den Tarif durchgeben. Ethik lebt vom fairen Austausch von Argumenten. Alle sind dazu aufgerufen, mitzudenken und mitzudiskutieren.
Anderes Thema: Viele Pharmafirmen streichen dank Corona enorme Gewinne ein. Ist das ethisch vertretbar?
Die Frage ist, wie man das Geld verdient. Und was man der Gesellschaft zurückgibt. Wenn Profitstreben dem Zugang zu lebensrettenden Medikamenten im Weg steht, haben wir ein Problem.
Ganz konkret gab es die Forderung an die Pharmabranche, den Patentschutz zu lockern, um im grösseren Stil Impfstoffe für die ganze Welt herstellen zu können. Die Antwort lautete: Nein.
Ich finde den Patentschutz in dieser Situation ein schwieriges Konzept. Wir reden in der Schweiz darüber, ob 60 Prozent Geimpfte gut genug sind. Fliegen Sie ein paar Tausend Kilometer südlich: Dort sind wir bei einem Prozent. Da stellt sich die Frage, ob Firmen durch ihr Geschäft dazu beitragen dürfen, dass weniger Impfstoff zur Verfügung steht.
Die Pharmafirmen sagen, dass das kein Problem des Patentschutzes ist, sondern der Produktionskapazitäten.
Ich kenne das Argument. Aber ich bin überzeugt, dass der Patentschutz ein wichtiges Element ist und wir da über die Bücher müssen. Auch die Pharmaindustrie könnte viel gewinnen.
Was denn?
Ihren Ruf. Und das ist längerfristig die mindestens so wichtige Währung wie kurzfristige Gewinne in den Märkten. Bis zu einem gewissen Grad lassen sich Gewinn und ethisches Handeln sogar vereinen.
Im letzten Jahr wurde uns vor Augen geführt, wie schwach die Gesundheitsbranche in der Digitalisierung ist. Ist eine digitalisierte Medizin automatisch ethischer?
Wir haben noch gar nicht begriffen, welch tiefgreifende Veränderung der Medizin auf uns zukommt. Denken Sie an all die Apps, die es heute schon gibt. Wer mit dem Rauchen aufhören will, kann sich heute schon einen Avatar kreieren, der einem dabei hilft. In der präventiven Medizin, im Management von chronischen Krankheiten oder auch in der Reha wird sich ganz vieles ins Digitale verlagern.
Klingt super.
Ja, aber je mehr künstliche Intelligenz in diesen Angeboten steckt, desto vorhersehbarer wird der Patient – und damit auch kontrollierbarer und manipulierbarer.
Was muss passieren?
Jeder Bürger muss besser verstehen, wie wertvoll seine Daten sind. Ich schliesse mich da mit ein. Auch ich klicke zu oft auf «ok». Wir brauchen dringend ein ethisches Qualitätslabel für Gesundheitsapps, weil in diesem Bereich der Konsument eben auch Patient ist – und besonders verletzlich.
Hat Corona uns stärker für Gesundheitsthemen sensibilisiert?
Ja, auch weil jene, die Homeoffice hatten, mehr Zeit hatten, sich mit ihrer eigenen Gesundheit auseinanderzusetzen.
Und mit ihren Rückenschmerzen!
(Lacht.) Oder mit ihrem Gewicht. Aber ja, in der Digitalisierung der Gesundheit liegt eine Chance. Auch für Ärzte und Pflegende, die mehr Feedback erhalten. Wir bauen derzeit gerade eine digitale Datenbank namens Dipex Schweiz auf, in der individuelle Patientenerfahrungen gesammelt und ausgewertet werden.
Haben Sie ein Beispiel?
Ein Patient beschreibt, wie es ist, wenn man zwischen Tür und Angel eine schwerwiegende Diagnose erhält, ohne dass Zeit bleibt für weitere Fragen. Diese Patientenperspektive müssen wir in die Ausbildung einbringen. So werden die Menschen in der Gesundheitsbranche besser. Denn zu einem darf die Digitalisierung nicht führen ...
... zu was?
Dass wir einfach nur effizienter werden. Man darf nicht vergessen, dass manche Menschen auch zum Arzt gehen, weil sie mit jemandem reden müssen. Da reicht eine App nicht.
Das Projekt Publico ist eine digitale Plattform, die den Menschen zur Äusserung von Gedanken rund um das Thema Corona dienen soll. Entwickelt wurde sie vom Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte der Universität Zürich in Zusammenarbeit mit Kolleginnen vom Swiss TPH. So kann nicht nur den Leuten eine Möglichkeit zum Austausch über kontroverse Themen geboten, sondern gleichzeitig auch die öffentliche Meinung erforscht werden. Das Ziel von Publico ist es, die Befindlichkeiten der Menschen beim Thema Corona in Echtzeit zu erfassen. In Umfragen können Teilnehmer beispielsweise die Massnahmen der Behörden bewerten oder ihr eigenes Wohlbefinden mit einer Tagebuch-Funktion festhalten. Mit künstlicher Intelligenz sollen diese Informationen dann ausgewertet und benutzerfreundlich aufbereitet werden. Künftig soll die Plattform auch für andere Themen eingesetzt werden, bei denen eine Krisenkommunikation nötig ist. Die WHO hat das Projekt mitfinanziert.
Das Projekt Publico ist eine digitale Plattform, die den Menschen zur Äusserung von Gedanken rund um das Thema Corona dienen soll. Entwickelt wurde sie vom Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte der Universität Zürich in Zusammenarbeit mit Kolleginnen vom Swiss TPH. So kann nicht nur den Leuten eine Möglichkeit zum Austausch über kontroverse Themen geboten, sondern gleichzeitig auch die öffentliche Meinung erforscht werden. Das Ziel von Publico ist es, die Befindlichkeiten der Menschen beim Thema Corona in Echtzeit zu erfassen. In Umfragen können Teilnehmer beispielsweise die Massnahmen der Behörden bewerten oder ihr eigenes Wohlbefinden mit einer Tagebuch-Funktion festhalten. Mit künstlicher Intelligenz sollen diese Informationen dann ausgewertet und benutzerfreundlich aufbereitet werden. Künftig soll die Plattform auch für andere Themen eingesetzt werden, bei denen eine Krisenkommunikation nötig ist. Die WHO hat das Projekt mitfinanziert.