Psychologen warnen
Wir haben das Zuhören verlernt!

Wir hören nicht mehr richtig zu – sei es im Gespräch oder auf gesellschaftlicher Ebene. Die Pandemie hat das noch verstärkt. Warum das ein Problem ist, erklären Wissenschaftsautorin Kate Murphy und Psychotherapeut Andi Zemp.
Publiziert: 26.09.2021 um 10:45 Uhr
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Aktualisiert: 28.09.2021 um 16:28 Uhr
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Kate Murphy ist eine amerikanische Wissenschaftsjournalistin und Autorin. Sie schreibt unter anderem für die «New York Times». Sie fordert: Wir müssen einander endlich zuhören.
Foto: zvg
Janina Bauer

«Wie geht es dir?», fragte mich letztens eine Kollegin, während sie die Speisekarte des Cafés musterte. «Ehrlich gesagt ... nicht so», sagte ich. Das Display ihres Smartphones, das ebenfalls auf dem Tisch lag, leuchtete auf, sie schielte drauf und sagte: «Hmm ... ich nehme einen Americano. Und du?»

Erst schob ich es auf die vielen Ablenkungsfaktoren: Handy, lautes Café, das Menü und all die weiteren «Tabs», die vermutlich in ihrem Hinterkopf geöffnet sind. Dann wurde ich sauer – und schliesslich brachte mich das Ganze zum Nachdenken. Wann habe ich das letzte Mal jemandem einfach nur zugehört? Ohne dass meine Gedanken nach kurzer Zeit abdriften. Was ich wohl zu Abend essen soll? Oder ob das lang erwartete E-Mail vielleicht schon eingetroffen ist? Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern.

Keine Zeit zum Zuhören

Die türkische Schriftstellerin Elif Shafak (49) schrieb während der Pandemie einen Essay mit dem Titel «Hört einander zu!». Darin erzählt sie von einem Satz, den sie auf einem Holzschild in einem Londoner Park gelesen hat: «Wenn das alles vorbei ist, möchte ich in einer Welt leben, in der ich gehört werde.» Die Verzweiflung eines Einzelnen steht für die Autorin sinnbildlich für ihre Frage, die uns alle angeht: «Wie kann es sein, dass in einer Ära, in der die sozialen Medien jeden gleichberechtigt zu Wort kommen lassen könnten, weiterhin so viele Menschen meinen, ihre Stimme werde nicht gehört?»

Anfang 2021 nutzen weltweit 4,2 Milliarden Menschen die sozialen Medien, so der Global Digital Report. Allein auf diesen Plattformen verbringen wir am Tag durchschnittlich zweieinhalb Stunden. Wenn man die Zeit dazuzählt, die wir mit Arbeiten, Essen, Schlafen und sonstigen To-dos verbringen, wird schnell klar: Zeit zum Zuhören bleibt immer weniger. Doch es sind nicht nur die zwischenmenschlichen Beziehungen, die davon betroffen sind. Auch auf gesellschaftlicher Ebene finden viele Menschen kein Gehör. Das hat gemäss Shafak Konsequenzen: «Wem eine Stimme verweigert wird, dem verwehrt man die Handlungsmacht über sein Dasein.» Rund 54 Prozent der Erwachsenen demokratischer Länder haben das Gefühl, «nie» oder «selten» gehört zu werden, so der Democracy Perception Index aus dem Jahr 2018. Und 43 Prozent fühlen sich «nie» oder «selten» in der Lage, ihre Meinung frei zu äussern, wenn die Mehrheit anderer Meinung ist. Die Zahlen zeigen: Wir haben verlernt, einander zuzuhören. Wieso? Und was macht das mit uns?

«Es fehlt an Zeit, Wille und Offenheit», sagt der Psychotherapeut Andi Zemp. Er ist Mitglied bei der Schweizer Föderation für Psychologen und Psychologinnen und gibt Workshops und Coachings, in denen das Zuhören eine zentrale Rolle spielt. Der Alltag vieler Menschen ist stressig, oftmals ist der Spagat zwischen Arbeit und Freizeit mit 1000 Dingen im Kopf eine Herausforderung. Zudem sind wir via Smartphones und Co. einer schier unendlichen Informationsflut ausgesetzt, die einen grossen Teil unserer begrenzten Aufmerksamkeit einnimmt.

«Ein schlechter Zuhörer ist ein schlechter Redner»

Die amerikanische Wissenschaftsjournalistin Kate Murphy hat 2020 ein Buch über das Zuhören veröffentlicht. In «Immer auf Sendung ... nie auf Empfang» hat sie das Phänomen untersucht. Während ihrer monatelangen Recherche und zahlreich geführten Interviews kristallisierte sich ein Hauptproblem heraus: «Wir glauben, dass wir Gespräche führen und dominieren müssen. Dass im Leben nur erfolgreich ist, wer gut erzählen, Menschen überzeugen und seinen Standpunkt durchsetzen kann.» Ganz nach dem Motto: Wer am lautesten schreit, wird gehört. Dabei geht vergessen: Nur wer weiss, wie das Gegenüber tickt, fühlt und denkt, kann es auch überzeugen. Dafür muss man zuhören. Murphy sagt: «Ein schlechter Zuhörer ist auch ein schlechter Redner.»

Besonders schwer fällt uns das Zuhören bei Menschen, die eine andere Meinung haben – insbesondere wenn es um Politik geht. Ein Paradebeispiel: Corona.

Letztens habe ich mit Kollegen übers Impfen gesprochen. Ich bin geimpft, sie nicht. «Warum denn nicht?», wollte ich wissen. Eine normale Antwort bekam ich nicht. Stattdessen eine patzige Erklärung, dass ich gar nicht erst versuchen brauche, Argumente dafür zu finden und sie zum Piks zu überreden.

Wieso reagierten meine Kollegen so? Weil sie Angst hatten, in den eigenen Denkmustern und Glaubenssätzen erschüttert zu werden – kurzum: falsch zu liegen. Das bestätigen Studien: Neurowissenschaftler der University of Southern California in Los Angeles konfrontierten Personen mit festen politischen Überzeugungen mit Gegenmeinungen. Gleichzeitig zeichnete ein MRT ihre Gehirnaktivitäten auf. Auffällig war unter anderem die Aktivität des Angstzentrums, das den Menschen in einen Kampf-oder-Flucht-Modus versetzt. «Als würde man von einem Bären gejagt werden», beschreibt es Kate Murphy.

«Hat der Mensch Angst, braucht er einfache Lösungen»

Es scheint eine natürliche Reaktion, dass der Mensch in solchen Situationen nicht zuhört. Eine zweite logische Konsequenz ist, dass er dazu neigt, sich in der eigenen Bubble aufzuhalten. Auf Medien und Redner zu hören, die die eigene Meinung bestätigen. Wieso? Weil es ihnen Halt und ein Zusammengehörigkeitsgefühl gibt, sagt der Star-Psychologe Steven Pinker im Interview mit Blick. Das hat problematische Folgen, denn so limitiert sich der Mensch selbst, sagt Buchautorin Murphy. «Durch Zuhören verstehen wir, bilden unsere Meinungen und Werte. Wenn man nicht gut, nur teilweise oder gar nicht zuhört, hindert man sich daran, die beste Version seiner selbst zu werden.»

Hinzu kommt: Wer gut zuhört, der muss beobachten, hinterfragen, über Emotionen nachdenken. Angst blockiert diese Fähigkeiten. Das bietet den perfekten Nährboden für Verschwörungstheorien, laute Einzelmeinungen und Populisten. «Hat der Mensch Angst, braucht er einfache Lösungen. Da hat er das Gefühl, weniger hinterfragen zu müssen», erklärt Andi Zemp. «Polarisierende Stimmen und Politiker nutzen diese Strategie in Krisenzeiten sehr erfolgreich.»

Die beiden Experten sind sich einig: Nicht alle Diskussionen in der Gesellschaft finden ohne Zuhören statt. Aber der Anteil derer, die es tun, hat sich während der Pandemie vergrössert. Die wenigsten von uns waren zuvor einmal einer solchen Unsicherheit ausgesetzt. Durch die soziale Abschottung diskutieren die Menschen verstärkt via soziale Medien. Das Ergebnis sind oftmals harte, beleidigende und destruktive Schlagabtausche in den Kommentarspalten von Twitter und Co. «Das ist kontraproduktiv, denn die Menschen tauschen Positionen aus, ohne sich zuzuhören. Was wir brauchen, sind echte Debatten», so Zemp.

Jeder dritte Schweizer ist einsam

Sonst droht Einsamkeit. Bereits heute fühlt sich jeder dritte Schweizer allein. Weil wir uns nicht zuhören, leidet die Qualität unserer sozialen Kontakte. Machen wir so weiter wie bisher, hätte das eine kollektive Vereinsamung der Gesellschaft zur Folge, so Zemp. Einsamkeit ist Gift für den Menschen. Sie macht uns krank und verkürzt nachweislich unsere Lebenszeit. In der Gesellschaft verursacht sie Spaltung.

Es ist an der Zeit, dass wir unsere grundlegende Haltung zum Zuhören ändern. Die folgenden Tipps von Autorin Kate Murphy und Psychotherapeut Andi Zemp können uns dabei helfen:

  • Zuhören bedeutet nicht zustimmen. Man akzeptiert lediglich, dass der Standpunkt des Gegenübers legitim ist und es mehrere Wahrheiten gibt.
  • Richtig zuhören ist effektiver. 93 Prozent der Kommunikation machen Körpersprache, Mimik und Gestik aus. Ist man als Zuhörer gedanklich abwesend, merkt das Gegenüber das. Es beginnt, wichtige Details auszulassen, oder redet wie ein Wasserfall. Man kommt besser und schneller an Informationen, wenn man von Beginn an richtig zuhört.
  • Der Zuhörer profitiert vom Zuhören. Durch gutes Zuhören werden Gespräche tiefer und schöner. Man lernt einander besser kennen und kommt sich näher. Die Qualität sozialer Interaktionen steigt so massiv – und so auch das Wohlbefinden von Zuhörerin und Rednerin.
  • Offenheit und Mitgefühl. Das sind die wesentlichen Attribute, die einen guten Zuhörer auszeichnen. «Ich muss versuchen, die Welt durch die Brille des Gegenübers wahrzunehmen», sagt Andi Zemp.
  • Zwei Fragen müssen nach einem Gespräch beantwortet werden können: Was habe ich über die Person gelernt? Was hält die Person von dem Thema, über das wir gesprochen haben? Das ist die Spezial-Empfehlung von Kate Murphy.
  • Auf die innere Einstellung kommt es an. Eine gute Zuhörerin zeichnet aus, dass sie auch wirklich zuhören will. Das funktioniert nur, wenn man echtes Interesse für den Redner aufbringt.
  • Klare Prioritäten setzen. Im stressigen Alltag kann man unmöglich jedem zuhören, denn unsere Aufmerksamkeit ist begrenzt. Wem möchte ich wirklich zuhören und meine volle Aufmerksamkeit schenken? Darüber sollte man sich im Klaren sein.
  • Pause vom Zuhören nehmen. Ein guter Zuhörer weiss, wann er mit dem Zuhören aufhören muss. Man muss Grenzen setzen – sich selbst und anderen gegenüber. Jedoch: Nicht zuzuhören, weil man anderer Meinung ist oder meint, man wüsste es besser, macht einen schlechten Zuhörer aus. Fehlt einem aber in einem Moment die intellektuelle oder emotionale Energie zum Zuhören, ist das nur menschlich.
  • Ehrliche Kommunikation. Können wir gerade nicht zuhören, müssen wir das ehrlich kommunizieren. Niemandem ist damit geholfen, wenn man so tut, als würde man zuhören. Wichtig ist eine respektvolle Formulierung: Niemals angreifend sein und die Begründung auf sich selbst beziehen.


Wenn Sie mir bis hierhin gefolgt sind, scheint ein Punkt bereits erfüllt zu sein: Ihr Interesse. Bleiben Sie dran – und hören Sie zu.

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