Giulia Silberberger (39) bringt Aufklärung ins Verschwörungsdickicht. Als Geschäftsführerin der Berliner Organisation Der goldene Aluhut kämpft sie seit Jahren gegen Desinformation und berät Angehörige und Pädagogen im Umgang mit Verschwörungsanhängern. Silberberger weiss, wovon sie spricht: Sie war selbst mehr als 15 Jahre Mitglied der christlichen Sekte Zeugen Jehovas.
Wir alle haben zurzeit diesen einen Facebook-Freund oder den einen Bekannten, der krude Theorien rund um das Coronavirus verbreitet. Scheint es nur so oder hat die Krise zu einem Boom von Verschwörungsmythen geführt?
Giulia Silberberger: Dieser Eindruck täuscht leider nicht. In meinem Beratungsalltag stelle ich fest: Viele Menschen sind emotionalisiert, haben ihr Sicherheitsgefühl verloren, sehnen sich nach Erklärungen. Das alles macht anfällig für Erzählungen über angebliche Eliten, die uns manipulieren wollen. Entscheidend ist aber noch ein zweiter Faktor.
Welcher?
Vor der Krise war die Verschwörungsszene in viele kleine Grüppchen versprengt. Mit Corona haben diese einen gemeinsamen Nenner gefunden und sich zu einer regelrechten Bewegung zusammengeschlossen. Das hat ihren Einfluss auf die Gesellschaft innert kürzester Zeit massiv erhöht.
Warum?
Eine gut organisierte Bewegung schafft mehr Reichweite in sozialen Netzwerken, ist präsenter in den Medien. Die Rechnung ist einfach: Je mehr Menschen die Verschwörungstheoretiker mit ihren Erzählungen erreichen, desto mehr bleiben hängen.
Gibt es Bevölkerungsgruppen, die besonders anfällig sind für Verschwörungstheorien?
Ich packe Menschen ungern in Schubladen. Was sich sicher sagen lässt, ist, dass Menschen aus tiefen Bildungsstufen mit schlechter Medienkompetenz eher gefährdet sind.
Wie soll man Bekannten begegnen, welche Verschwörungstheorien verbreiten? Wie können wir verhindern, dass sie abdriften?
Ich empfehle eine Strategie mit drei Pfeilern: Besonnenheit, Faktenchecking und Selbstreflexion.
Erklären Sie.
Das Wichtigste ist Besonnenheit. Auf keinen Fall sollte man im Umgang mit diesen Menschen in den Konfrontationsmodus schalten und Dinge sagen wie: «Das glaubst du aber nicht wirklich, oder? Das ist doch lächerlich!» Oft ist das zwar der erste Reflex, einen konstruktiven Dialog können wir so aber nicht starten. Viel eher sollten wir versuchen herauszufinden, welchen Mehrwert die Person von ihrem Glauben hat, welches Bedürfnis damit befriedigt werden soll. Ist es vielleicht ein Mensch, der auf der Suche ist nach verlässlichen Informationen zur aktuellen Pandemielage, aber nicht genau weiss, wo er sie finden soll?
Zeitungen und Newsportale sind doch voll damit.
Das Netz ist aber auch voll von Fake News. Verschwörungsideologen blasen ihr Zeugs ja wirklich ohne Ende in die sozialen Medien. Da kann es schnell passieren, dass Leute zuerst auf diese Fehlinformationen treffen und diese dann glauben. Womit wir beim zweiten Punkt wären.
Das Faktenchecking.
Ich empfehle, mit dem Bekannten zusammenzusitzen und gemeinsam gegenzurecherchieren. Die Quellen und die Fakten mit Hilfe des Internets zu überprüfen. Das haben nicht alle gelernt, insbesondere ältere Menschen haben Mühe damit. So findet man auch schnell heraus, ob die Person noch auf dem Zweifler-Level ist und damit offen für Fakten, die eine Theorie widerlegen –der dritte Pfeiler also: die Selbstreflexion. An diese gilt es zu appellieren.
Und wenn der Bekannte trotz klarer Fakten an den falschen Theorien festhält?
Dann ist die Person leider bereits über den Punkt des Zweifelns hinaus. In diesem Fall kommen wir nicht mehr weiter.
Sie meinen, diese Menschen sind verloren?
Das kann es geben. Und das ist tragisch.
Sollten wir nicht auch um diese Menschen kämpfen?
In Einzelfällen kann sich das lohnen. Wir sollten uns aber auch bewusst sein, dass es in solchen Fällen oft ein Kampf gegen Windmühlen ist. Sehen Sie, das gibt es ja nicht nur bei den Verschwörungstheoretikern. Wir verlieren auch Menschen an die Islamisten, an Sekten oder Neonazis. Wir müssen den freien Willen dieser Leute akzeptieren. Das muss eine Demokratie aushalten. Wir können niemanden zu etwas zwingen.
Auch Sie selbst gehörten eine Zeit lang zu den Verlorenen. Sie wuchsen bei den Zeugen Jehovas auf. Wie haben Sie den Ausstieg geschafft?
Das war ein Lebensprozess. Ich musste über lange Zeit zu mir selbst finden. Mit 26 Jahren konnte ich mich endlich von der Sekte lösen. Es braucht unglaublich viel Mut, sich selber gegenüber einzugestehen, dass vieles, woran man geglaubt hat, nicht stimmt. Stichwort Selbstreflexion. Man muss sein ganzes Weltbild über Bord werfen. Das hinterlässt Spuren.
Kämpfen Sie noch heute damit?
Die meisten Sektenopfer, mich eingeschlossen, gehen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung da raus. Das ist ideologischer Missbrauch, was man in so einem Milieu durchmacht. Den konnte ich nur mit psychologischer Hilfe verarbeiten. Wer täglich mit Weltuntergangserzählungen einschläft und aufwacht, der kann kein sorgenfreier Mensch sein. So geht es auch den Verschwörungstheoretikern. Sie sind wütend. Und ängstlich.