Wieder sind Menschen in den Bergen tödlich verunglückt. Im Greyerzerland stürzte am Freitag eine 44-jährige Frau 400 Meter in die Tiefe und verstarb. Am Dienstag traf es im Klöntal einen 77-jährigen Wanderer und in Täsch VS einen 64-jährigen Alpinisten aus Holland. Exakte Opferzahlen für 2022 fehlen noch. Aber im letzten Jahr starben mehr Bergwanderer denn je. Und es hört nicht auf.
Es gibt Gründe für diese Häufung: Halten sich mehr Leute im Gebirge auf, kommt es zu mehr Unfällen. Das sagen Touristiker, das sagt die Beratungsstelle für Unfallverhütung – meistens gefolgt mit einem Verweis auf die Eigenverantwortung. Doch die Experten machen es sich zu einfach.
Fakt ist: Viele Wandervögel überschätzen sich massiv. Auf den rot-weiss markierten Bergwanderwegen fehlt jedem Vierten die dafür notwendige körperliche Fitness. Mit Flipflops auf dem Saumpfad – warum nicht? Oberhalb der Baumgrenze herrscht eher Unvernunft als Eigenverantwortung.
Auch, weils beim Volkssport Nummer 1 keine Regeln gibt. Wer will, darf barfuss aufs Matterhorn klettern. Wandern gilt in der Schweiz nicht als Risikosportart. Die strengeren Auflagen, die der Bundesrat vor rund zehn Jahren einführen wollte, flogen ihm bei der Vernehmlassung des Gesetzesentwurfs regelrecht um die Ohren: Niemand wollte ein Wanderbrevet, um im Wald mit den Enkelkindern einen Cervelat bräteln zu dürfen.
Anderswo scheint das mit der Eigenverantwortung besser zu klappen, etwa beim Tauchen. Auch da gibt es kaum Verbote, jeder darf in den Thunersee. Wer hierzulande jedoch in einem Shop eine entsprechende Ausrüstung mieten möchte, muss ein Tauchbrevet vorweisen.
Ganz anders sieht es beim Wandern aus. Bergbahnen und Tourismusregionen bezahlen Blogger und Influencer aus aller Welt, um die schönsten Routen zu bewerben. Instagram ist voll von atemberaubenden Bergpanoramen. Wer warnt, wird als Spassbremse abgekanzelt. «Jeder kann wandern!», lautet das Motto. Jedoch: Mit roten Socken an den Füssen wird man nicht automatisch zu Superman.
Was also tun? Selbstverständlich fordert niemand einen Fitnesstest für den Kauf von Wanderstöcken oder Seilbahntickets. Das wäre auch absurd. Doch wenn immer mehr Wanderer verunglücken, darf sich die Branche nicht länger hinter dem Begriff «Eigenverantwortung» verstecken, Wahrscheinlichkeitsrechnung hin oder her.
Man könnte wenigstens damit beginnen, das Problem ernst zu nehmen. In der Schweiz werden die Wanderwege von Freiwilligen kontrolliert, die auch beim Unterhalt helfen. Auf der Homepage heisst es dazu: «Es wird weder Expertenwissen noch besonderes handwerkliches Geschick oder übermässige physische Kondition vorausgesetzt.»
Das Ehrenamt in allen Ehren – aber wer wie die Tourismusbranche Millionen zur Bewerbung eines Produkts investiert, sollte auch über genügend Mittel verfügen, um sein Angebot professionell auf Sicherheit zu überprüfen und auf Risiken ehrlich hinzuweisen.
Das wäre dann tatsächlich Eigenverantwortung.