«Schweiz muss die Neutralität neu definieren»
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BlickPunkt:«Schweiz muss die Neutralität neu definieren»

BlickPunkt über die Parteinahme gegen Russland
Neutralität darf keine Ausrede sein

Wenn ein demokratisches Land und seine freiheitlichen Werte angegriffen werden, darf die Schweiz nicht einfach zuschauen. Deshalb gibt es für uns auch keine Neutralität im Ukraine-Krieg.
Publiziert: 09.04.2022 um 01:15 Uhr
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Christian Dorer, Chefredaktor Blick-Gruppe

Die Schweizer Neutralität geht auf das Jahr 1674 zurück. Sie stammt aus einer Zeit, in der es immer und überall irgendwelche bewaffneten Konflikte gab – aber selten eindeutig zu bestimmen war, wer der Aggressor und wer das Opfer ist. Für ein kleines, friedliches Land war es sinnvoll, sich aus diesen Händeln herauszuhalten.

Heute spielen sich viele Konflikte nicht mehr nur zwischen zwei Ländern ab. Stattdessen erleben wir einen Kampf der Systeme: die demokratische, freiheitliche, selbstbestimmte Welt auf der einen Seite, die freiheitsverachtende, selbstherrliche, autoritäre Welt auf der anderen.

In einem solchen Streit darf die Schweiz nicht neutral bleiben – und sie ist es auch schon lange nicht mehr: Selbst im Kalten Krieg gehörte unser Land klar zum freien Westen. Das zeigte sich nur schon daran, dass die Armee stets vom Szenario ausging: «Die Russen kommen!» Nie hiess es: «Die Amis kommen!»

Ebenso eindeutig ist die Lage im Krieg gegen die Ukraine. Russlands Angriff gilt nicht nur einer friedlichen Demokratie, sondern der gesamten freiheitlichen Welt. Auch und ganz besonders gilt er der Schweiz als Inbegriff der bürgerlichen Freiheit.

Deshalb kann es in diesem Fall keine Neutralität geben!

Die Schweiz muss selbstverständlich jede Sanktion des Westens mittragen. Alles andere wäre nicht Neutralität, sondern Unterstützung Russlands.

Die Schweiz muss selbstverständlich den Krieg und die Kriegsverbrechen von Butscha als solche benennen – als was denn sonst?

In Wirklichkeit brauchte die Schweiz viel länger als andere Staaten, um die Sanktionen zu übernehmen, und Bundespräsident Ignazio Cassis (60) schwadronierte herum: «Die Neutralität verpflichtet dieses Land zu einer differenzierten Position.»

Die «guten Dienste» werden häufig als Ausrede benutzt, um keine klare Position beziehen zu müssen. Doch auch die Vermittlerrolle ist kein Selbstzweck: Wenn die Schweiz als Moderator gewünscht ist – gerne. Und wenn jetzt die Türkei vermittelt – auch gut.

Die Schweiz braucht die Neutralität nicht gleich ganz abzuschaffen. Sie sollte sie aber ebenso wenig als Mythos kultivieren. Der Krieg in der Ukraine beweist, dass die freiheitliche Welt als Schicksalsgemeinschaft zusammensteht – und dass die Neutralität deshalb neu definiert werden muss.

Im unwahrscheinlichen Fall eines Angriffs auf die Schweiz käme der Gegner nicht aus dem Weltall, sondern müsste zuerst Deutschland, Frankreich, Österreich oder Italien niederkämpfen. Darum ist es mehr als sinnvoll, dass wir auch militärisch bedeutend näher an unsere Nachbarn heranrücken. FDP-Präsident Thierry Burkart (46) formulierte es gestern in der NZZ so: «Ende der Igel-Schweiz: Zusammenarbeit mit der Nato verstärken.»

Putins Überfall auf die Ukraine sollte auch dem Letzten deutlich machen: Die Schweiz ist keine Insel!

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