Neutralität ist ein bisschen wie Kaffeesatz: Jeder kann etwas hineinlesen. Und das finden, was die eigene Weltanschauung bestärkt.
Am Freitag vor einer Woche führte Aussenminister Ignazio Cassis die Neutralität als Argument dafür ins Feld, warum die Schweiz die EU-Sanktionen nicht übernehmen soll. Sie verpflichte die Schweiz «im Bezug auf Sanktionen zu einer differenzierteren Position» als die EU, sagte Cassis. Vier Tage später hielt dieselbe Neutralität den Bundesrat nicht davon ab, die EU-Sanktionen doch noch zu übernehmen.
Neutralität ist dehnbar.
Das gilt zumindest für die politische Auslegung des Begriffs, die Neutralitätspolitik. Das Neutralitätsrecht hingegen setzt klare (und wenige) Grenzen: Ein neutraler Staat verpflichtet sich, nicht an Kriegen teilzunehmen und sein Territorium keinen Krieg führenden Parteien zur Verfügung zu stellen.
Neutralität wird immer wieder neu ausgehandelt
Wenn in der öffentlichen Debatte von Neutralität die Rede ist, geht es denn auch meist um Neutralitätspolitik. Darum also, wie sich ein neutrales Land verhält, damit die anderen Staaten ihm diese Neutralität abkaufen. Gerade weil es ein politischer Begriff ist, wird er immer wieder neu ausgehandelt: Je nach Land, je nach Epoche, je nach politischer Ausrichtung hat dasselbe Wort eine völlig andere Bedeutung.
Das zeigt sich etwa daran, dass die Schweizer Neutralität 1986 das wichtigste Argument gegen einen Uno-Beitritt war – nicht weniger als 76 Prozent der Stimmbürger lehnten die Vorlage ab. Im Jahr 2002, der Kalte Krieg war inzwischen zu Ende, sah eine Mehrheit der Stimmbürger offenbar keinen Konflikt mehr zwischen einer Uno-Mitgliedschaft und der Neutralität. 55 Prozent stimmten einem Beitritt zu.
Sacha Zala, Professor für Schweizer Geschichte an der Uni Bern, sagt es so: «Neutralität ist wie eine leere Hülse. Ihre Form ist klar definiert, aber man kann sie füllen, wie man will.»
Schweiz schaut nicht stumm zu
Neben dem Krieg in der Ukraine sorgte zuletzt auch die geplante Einsitznahme der Schweiz im Uno-Sicherheitsrat für neutralitätspolitische Debatten. Die SVP lehnt diesen Schritt ab: Das Land würde sich damit «Interessenkonflikten aussetzen», kritisiert die Partei in einem Communiqué.
Als neutraler Staat sei die Schweiz «der Unparteilichkeit verpflichtet»: «Sie mischt sich nicht in internationale Konflikte ein und ergreift (...) auch keine direkten Sanktionen gegen andere Länder.»
In Wirklichkeit tut die Schweiz genau dies immer wieder. Seit dem Beitritt übernimmt sie Sanktionen der Uno automatisch, auch bei EU-Sanktionen macht sie regelmässig mit. Zudem schaut sie bei internationalen Konflikten heute keineswegs stumm zu. So wie der Bundesrat das russische Vorgehen verurteilte, äussert sich die Schweiz auch in anderen Fällen. Dass sich die Schweiz positioniert, ist also nichts Neues. Ebenso wenig wie das stete Abwägen zwischen wirtschaftlichen, politischen und diplomatischen Interessen.
Uno-Sicherheitsrat bedeutet Chancen
Was stimmt: Mit einem Sitz im Uno-Sicherheitsrat steht die Schweiz stärker im Fokus der Weltöffentlichkeit.
Das kann ein Risiko sein, wie sich jüngst zeigte. Selbst ohne Sitz im UnoSicherheitsrat sorgte das Lavieren des Bundesrats in der Frage von EU-Sanktionen für internationale Kritik. Doch ein Sitz im höchsten Uno-Gremium bedeutet auch Chancen: Die Schweiz kann sich einbringen, mitbestimmen, vermitteln. Sie kann diplomatische Beziehungen vertiefen und den Wert des Völkerrechts in den Vordergrund rücken – jenes Instrument, auf das sie als Kleinstaat selber angewiesen ist.
Aber vielleicht ist die Frage, was Neutralität bedeutet, ohnehin falsch gestellt. Denn der Begriff – obgleich dauerndem Wandel unterworfen – ist längst Teil der Schweizer Identität geworden. Das macht eine Diskussion darüber sogleich zur Glaubensfrage.
Statt also Identitätspolitik zu machen, sollte sich die Schweiz besser fragen, welche Aussenpolitik sie verfolgen will. Denn dazu dient die Neutralität im Grunde: Sie ist kein Selbstzweck – sondern ein Instrument, um die eigene Unabhängigkeit zu wahren.