Kein Land überwacht seine Bürgerinnen und Bürger so umfassend wie China. Millionen von Kameras, zahllose Aufpasser und hochentwickelte Überwachungssoftware machen es möglich, dass die Regierung von jedem Schritt ihrer Untertanen erfährt.
Umso bemerkenswerter sind die landesweiten Proteste, die das Riesenreich derzeit bewegen. In Grossstädten gehen Menschen auf die Strasse, demonstrieren gegen die rigiden Corona-Lockdowns und fordern Xi Jinping (69) zum Rücktritt auf – wobei jeder einzelne Demonstrant riskiert, für Jahre im Gefängnis zu landen.
Aus der «Null-Covid-Politik», die Xi bereits zu Beginn der Pandemie ausgerufen hat, kommt Chinas Staatspräsident nicht mehr heraus, ohne sein Gesicht zu verlieren. Vermutlich gibt es auch in seinem Umfeld niemanden, der eine andere Meinung vertritt. Erst recht nicht mehr, seit sich Xi zum absoluten Herrscher ausrufen liess. Er hat jetzt so viel Macht wie niemand seit Mao Zedong (1893–1972).
Einem Omen gleich verstarb diese Woche Xis Vor-Vorgänger Jiang Zemin 96-jährig. Jiang stand für ein System, das ebenso wenig Kritik zuliess, innerhalb der Kommunistischen Partei jedoch leistungsorientiert funktionierte: Wer sich bewährte, stieg auf. Zuoberst stand das 20-köpfige Politbüro, bestehend aus blassen, aber hochintelligenten Funktionären, die maximal zehn Jahre im Amt verblieben – und alle dasselbe Ziel verfolgten: China zur führenden Nation auf Erden zu machen.
Dann kam Xi Jinping, baute die Position des Präsidenten zu der eines absoluten Herrschers ohne Amtszeitbeschränkung aus und liess den Personenkult wieder aufleben, den sich bisher nur Staatsgründer Mao hatte leisten dürfen.
Seither geht es zuerst um die Kultperson Xi – und erst dann um China. Doch kein absoluter Herrscher vermag auf Dauer bessere Entscheide zu fällen als ein Gremium der intelligentesten Köpfe.
In Russland, wo Wladimir Putin (70) schleichend zum Diktator geworden ist, lässt sich das besonders drastisch beobachten: Wetten, dass Moskau ohne diesen der Realität entrückten Ex-KGB-Agenten nie einen Krieg gegen die Ukraine begonnen hätte?
Wie anders funktioniert da unser Land, in dem die Macht seit jeher breit verteilt ist! Wie zum Beweis, dass es ohne Personenkult oder gar Kultpersonen geht, finden in wenigen Tagen die diszipliniertesten Bundesratswahlen seit langem statt: Zwei Vakanzen, vier Kandidatinnen und Kandidaten, alle topqualifiziert, von der Basel-Städterin über den Berner Agronomen und den Professor bis hin zur ersten jurassischen Kandidatin. Keine Taktiererei, keine Druckversuche, keine Spielchen. Das Parlament wird am Mittwoch zwei dieser vier in die Regierung wählen. Ganz unspektakulär.
Besonders in ernsten Zeiten wie diesen ist es von Vorteil, wenn es um die Sache geht – und das politische Führungspersonal so unspektakulär wie möglich ist.