BlickPunkt über den Kriegsverlauf
Prognosen und Wirklichkeit

268 Tage nach dem Beginn von Putins Krieg ist der Ausgang offen. Fest steht nur: Für die Ukraine und den Westen sieht es besser aus, als damals fast alle dachten.
Publiziert: 19.11.2022 um 00:07 Uhr
Wolodimir Selenski (44) besucht die befreite Regionalhauptstadt Cherson.
Foto: imago/UPI Photo
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Christian Dorer

Was für ein Schock für die Welt, als Russland am 24. Februar die Ukraine angriff! Die meisten Prognosen stellten sich schon damals als falsch heraus: dass Wladimir Putin (70) zwar drohen, aber niemals angreifen würde.

Als die ersten Bomben fielen, waren sich dann alle einig, dass die Ukraine keine Chance hat: «Russische Offensive kaum zu stoppen», titelte etwa die «NZZ» und analysierte: «Für eine wirksame, aktive Verteidigung sind die ukrainischen Panzer veraltet, ebenso die Luftwaffe.» Und ein ehemaliger britischer General meinte: «Die Russen werden die Ukraine überwältigen und besetzen.»

Viele gingen davon aus, der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (44) würde aus seinem Land fliehen, um sein Leben zu retten. Doch er blieb – und wurde zum Kopf eines heroischen Kampfes von 44 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern.

Inzwischen hat sich Putin bis auf die Knochen blamiert – mit dilettantischer Taktik, schlecht ausgebildeten Soldaten und marodem Material. Heute weiss jeder: Die russische Armee ist ein Trümmerhaufen!

Auch die Reaktion des Westens sah kaum jemand voraus: Bis heute handelt die freie Welt nahezu geschlossen. Die viel geschmähte Nato wurde wieder zu einem wichtigen Faktor.

Dann rief Moskau die Mobilmachung von 300’000 Reservisten aus. Wer aber meinte, das bringe die Wende, lag ebenfalls falsch: Wenige Wochen später zog sich Russland aus Cherson zurück, der einzigen besetzten Regionalhauptstadt. Nach der erfolgreichen ukrainischen Gegenoffensive kontrolliert Putins Armee heute noch ein paar Gebiete im Süden und Osten.

Und nun einigten sich die wichtigsten Staaten der Welt am G20-Gipfel von Bali auf eine erstaunlich klare Abschlusserklärung: «Die meisten Mitglieder verurteilen den Krieg in der Ukraine scharf und betonen, dass er unermessliches menschliches Leid verursacht und die Schwachstellen in der Weltwirtschaft verschärft.» Das heisst: Russland ist unter den wichtigsten Ländern der Welt isoliert.

Die Präsidenten der USA und Chinas, Joe Biden (79) und Xi Jinping (69), sind sich in vielem uneins. Aber auf Bali erklärten sie sich jetzt gemeinsam «gegen den Einsatz von oder die Drohung mit Atomwaffen in der Ukraine» – ein überdeutlicher Wink der beiden Weltmächte an Putin. Damit hat sich auch die Annahme zahlloser Experten erledigt, China werde Russland blind unterstützen.

Die 268 Tage seit Kriegsbeginn zeigen jedem Diktator, den vielleicht ebenfalls irgendwelche Kriegsgelüste treiben: Der Preis ist hoch, sehr hoch!

Wie stünde es um die Werte der Freiheit, wenn die Ukraine rasch kapituliert, Russland widerstandslos gewonnen und die Welt ihren normalen Gang gegangen wäre?

Zwar weiss auch heute niemand, wie der Krieg ausgehen wird. Zwei Lehren lassen sich trotzdem ziehen: Die Welt darf die Annexion eines friedlichen Landes niemals tolerieren. Und: Die Dinge entwickeln sich häufig anders, als man denkt.

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