Er wollte «kein Diktator» sein
Chinas Ex-Staatschef Jiang Zemin (†96) gestorben

Jiang Zemin, der frühere Staats- und Parteichef von China, ist gestorben. Er starb infolge einer Leukämie und wegen eines multiplen Organversagens.
Publiziert: 30.11.2022 um 09:55 Uhr
|
Aktualisiert: 30.11.2022 um 13:01 Uhr
Jiang Zemin (rechts) mit dem amtierenden Präsidenten Xi Jinping am Kongress der Kommunistischen Partei im Jahr 2017.
Foto: Getty Images

Der frühere chinesische Staats- und Parteichef Jiang Zemin ist im Alter von 96 Jahren gestorben. Das berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua am Mittwoch. Er war 13 Jahre Chinas Staatsoberhaupt und Vorsitzender der Kommunistischen Partei. Laut Xinhua starb er infolge «einer Leukämie und wegen eines multiplen Organversagens».

Allerdings war er nie für seine Visionen bekannt, sondern wirkte eher als Sachverwalter und Kompromissfigur verschiedener Strömungen in der Partei.

Erst nach dem Wechsel 2002 zur Führungsgeneration mit Hu Jintao (79) an der Spitze schien Jiang Zemin den Höhepunkt seiner Macht erreicht zu haben: Lange zog er als «starker Mann» im Hintergrund die Fäden.

Er genoss das Rampenlicht nach dem Rücktritt

Im Gegensatz zu anderen chinesischen Spitzenpolitikern, die sich nach ihrem Abtritt aus der Öffentlichkeit zurückzogen, genoss der zur Eitelkeit neigende Jiang Zemin weiter das Rampenlicht. Er sei «auf eine Weise der erste moderne Präsident Chinas» gewesen, schrieb Willy Lam, Autor einer Biografie über den Politiker. Der Grund: seine Fähigkeit, «die Medien zu seinem Vorteil zu manipulieren».

Nach seinem Rückzug aus dem Amt 2002 liess sich Jiang Zemin mit jungen Mädchen an der Uferpromenade Shanghais ablichten, setzte seine Inspektionsbesuche im Lande wie früher fort und nahm zum Verdruss seines Nachfolgers Hu Jintao weiter Einfluss auf wichtige Personalentscheidungen. Doch nach dem nächsten Generationswechsel 2012 zum heutigen Staats- und Parteichef Xi Jinping (69) brachte ihm diese Strippenzieher-Rolle Ärger ein.

Die Anti-Korruptions-Kampagne des neuen Präsidenten, der sich gegen Widerstand in der Partei wehren musste, zielte auch auf das bis hoch in die Militärspitze reichende Netzwerk von Jiang Zemin. 2015 kritisierte das Parteiorgan «Volkszeitung» nicht näher genannte «pensionierte Führer», die sich an die Macht klammerten und weiter einmischten, was als Botschaft an Jiang Zemin verstanden wurde.

Jiang Zemin hinterliess China die häufig belächelte Leitlinie der «drei Vertretungen» und öffnete die Partei damit «fortschrittlichen Produktionskräften», sprich Privatunternehmern. Die vage Theorie war eine Anpassung an die Realität und diente Jiang Zemin dazu, sein ideologisches Manko auszugleichen und mit Deng Xiaoping (1904–1997) und Mao Tsetung (1893–1976) gleichzuziehen. Sein Gedankengut wurde in der Verfassung verankert, sein Name – anders als bei seinen beiden grossen Vorgängern – allerdings nicht.

Immer wieder Gerüchte über seinen Tod

In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Gerüchte über seinen Tod. Umso mehr Bewunderung weckte Jiang Zemin, wenn er trotz seines hohen Alters wieder quicklebendig auftrat. Beim Parteitag 2017 verfolgte er auf dem Podium mit einer grossen Lupe die dreistündige Rede von Staats- und Parteichef Xi Jinping über den «Sozialismus für eine neue Ära». Er schien aber Langeweile oder gar Respektlosigkeit zu zeigen, indem er mit weit geöffnetem Mund gähnte oder wiederholt auf die Uhr schaute, was noch zu seiner Popularität beitrug.

Im Volk wurde er gerne «der Senior» genannt. «Hinter der Nostalgie für Jiang Zemin steckt aber nicht notwendigerweise eine echte Verehrung oder Zustimmung zu seinem harschen Regierungsstil, sondern eher Ablehnung gegenüber dem gegenwärtigen Führer Xi Jinping», schrieb Lotus Yang Ruan in «The Diplomat».

Er gab mit Goethe-Kenntnissen an

Bekannt war Jiang Zemin für seine Liebe zur Poesie. Gegenüber Staatsgästen gab er gerne mit seinen Kenntnissen von Goethe oder Shakespeare an. Doch Wertvorstellungen westlicher Autoren fielen bei ihm nie auf fruchtbaren Boden. «Das westliche Politikmodell darf niemals kopiert werden.» Politische Reformen schloss er aus: «Chinas politisches System darf niemals erschüttert werden.»

Menschenrechte kannte er nur als Recht auf Existenz. Alle Faktoren, die die Stabilität gefährdeten, sollten «im Keim erstickt» werden, verkündete Jiang Zemin. Ein Bürgerrechtler nach dem anderen wanderte in Haft. Die Angst vor Instabilität trieb Jiang Zemin um. Hinter der Unsicherheit steckte ein Werdegang, der durch Zufall bestimmt war.

Nach dem Sturz des Parteichefs Zhao Ziyang (1919–2005) kurz vor der Niederschlagung der Demokratiebewegung am 4. Juni 1989 musste Deng Xiaoping einen Kompromisskandidaten finden. Er fand ihn in dem Technokraten, der bis dahin Schanghais Bürgermeister war. Zwar verstand der frühere Fabrikdirektor etwas von Staatsbetrieben, aber moderne Aktienmärkte waren ihm suspekt. Unter seiner Regentschaft wurde 1997 die britische Kronkolonie Hongkong an China zurückgegeben, ebenso 1999 die portugiesisch verwalteten Enklave Macao.

Mit dem wachsenden Gewicht Chinas in der Welt gewann Jiang Zemin auch international an Statur. Nach Protesten auf einer Europareise 1999 sah sich Jiang Zemin zu Unrecht mit Chiles Diktator Augusto Pinochet (1915–2006) verglichen. Er empörte sich gegenüber einem europäischen Diplomaten: «Ich bin doch kein Diktator.» (bab/SDA)

Fehler gefunden? Jetzt melden