Wie werden wir zusammenleben? An welchen Werten und Grundsätzen will sich eine globale Gesellschaft im einundzwanzigsten Jahrhundert orientieren? Kann es der Welt gelingen, ihre Konflikte friedlich beizulegen? Der Klimawandel, die geostrategischen Verschiebungen, die ungleiche Verteilung des Reichtums, die Folgen der Pandemie – die Treiber für diese Konflikte haben nicht abgenommen. Es ist dringend und notwendig, dass sich die Öffentlichkeit über diese Fragen austauscht, Position bezieht und hoffentlich einige Lösungen entwickelt.
Dieser Meinung war auch Hashim Sarkis, Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT), als man ihn zum Kurator der wichtigsten Architektur-Ausstellung Europas berief, der diesjährigen Biennale in Venedig. Und so stellt er diese Frage als Titel über seine Ausstellung: «How will we live together?» Nicht weniger als einen neuen Gesellschaftsvertrag fordert Sarkis, eine neue Verteilung des Raumes. Entscheidend für den Architekten ist das Gemeinsame, das Geteilte, und nach diesem Schlüsselbegriff, dem «Together», sucht er in seiner Ausstellung. Menschen, Haushalte und Staaten sollen sich finden, zusammengehen, kooperieren. Nur so gibt es ein Überleben für alle.
Nach dem Prinzip der Biennale gab er seinen Auftrag und damit seine Frage an eine Vielzahl Architektinnen weiter, an Städteplanerinnen, Naturwissenschaftlerinnen und Künstlerinnen aus der ganzen Welt. In ganz unterschiedlicher Weise und aus verschiedenen Richtungen umkreisen sie die Frage, manchmal historisch-konkret, dann eher philosophisch-abstrakt. Die Ergebnisse kann man in der Lagunenstadt noch bis Mitte November bewundern.
Erlebnistourismus für die Bildungselite?
Zur Biennale gehört das Gespräch und die Kritik. Wie jedes Jahr streitet sich auch heuer die Fachwelt leidenschaftlich über Inhalt und Form. Das Konzept selbst, so eine Meinung, sei aus der Zeit gefallen. Carolyn Smith schreibt in der «Architectural Review», nur noch die Fachwelt würde glauben, dass sie mit ihren Beiträgen die Welt verändern könnten. Im Kern sei die Biennale ein wenig anspruchsvoller Erlebnistourismus, ein Themenpark für die Bildungselite.
Die Aussteller verteidigen derweil ihre Arbeit. Die diesjährige Biennale verhandle dringende Themen, entgegnen Kabage Karanja und Stella Mutegi, Themen, mit denen wir uns als globale Gesellschaft auseinandersetzen müssen, wenn wir eine egalitäre, integrative und ökologische Welt aufbauen wollten. Und tatsächlich geht es in ihrem Beitrag, den sie mit ihrem Cave_Bureau aus Nairobi realisiert haben, unter anderem um die Frage, wie man einen neuen und produktiven Umgang mit dem kolonialen Erbe entwickeln könnte.
Vielfalt, Ökologie und Postkolonialismus – auch die Biennale kommt nicht an diesen Begriffen vorbei. Die Beiträge sind oft differenziert, man mag viele neue Einblicke und Erkenntnisse gewinnen, und ob der Miesepeter eine Reise nach Venedig selbst als dekadente Ressourcenverschwendung denunzieren will oder nicht, er wird trotz allem zugeben müssen: Diese Biennale ist äusserst lehrreich – doch leider nicht wegen der präsentierten Inhalte in den Ausstellungen, sondern zuerst durch die Art ihrer Finanzierung.
Ein Regime finanziert die Architektur-Biennale
«Major Donor» der diesjährigen Biennale sind nämlich die «Qatar Museums». Diese Organisation vereinigt sämtliche Museen des Emirats am Persischen Golf. Vorsitzende ist Sheikha Al-Mayassa bint Hamad bin Khalifa Al-Thani, Schwester des regierenden Emirs von Katar. In Machtpositionen gelangt man in Katar nur durch die richtige familiäre Herkunft: Katar ist eine absolute Monarchie. Staatsreligion ist eine rigide Form des Islams, der Wahabismus. Das geltende Recht folgt der Scharia. Menschenrechte gibt es nicht. Homosexualität wird mit bis zu sieben Jahren Gefängnis bestraft. Es gilt ferner das Prinzip der männlichen Vormundschaft. Frauen dürfen ohne Bewilligung weder heiraten noch ins Ausland reisen und nur begrenzt für ihre eigenen Kinder Entscheidungen treffen. Ferner ist das Land berüchtigt für die globale Förderung des Salafismus und gilt als Financier des internationalen Terrors, unter anderem auch des Islamischen Staates.
Weltweit an der Spitze ist Katar beim Co2-Ausstoss. 2018 betrug er pro Kopf mehr als 31 Tonnen. Die zweitplatzierten Vereinigten Arabischen Emirate bringen es bloss auf 20 Tonnen, Australien auf die Hälfte.
Obwohl der Ausländeranteil in Katar bei fast neunzig Prozent liegt, haben die Arbeitsmigranten und -migrantinnen nichts zu lachen. Die Menschen aus Nepal, Bangladesch oder Pakistan arbeiten unter lebensgefährlichen Umständen. Gemäss einem Bericht von Amnesty International vom Oktober letzten Jahres werden Hausangestellte regelmässig misshandelt, sind Opfer sexualisierter Gewalt und müssen oft ohne Lohn arbeiten. Auf den Baustellen sterben jedes Jahr Hunderte Bauarbeiter am Hitzestress, wie die britische Tageszeitung «The Guardian» schon 2019 berichtete. Die Täter bleiben in der Regel straffrei.
Viele können dem Geld aus Katar nicht widerstehen
Das Emirat Katar ist durch das Erdöl reich geworden. Die Museumsbehörde soll nach Schätzungen über einen Etat von einer Milliarde Dollar für Ankäufe verfügen – jährlich. Für die notorisch gebeutelten Haushalte der europäischen Kulturinstitutionen ist das Geld aus dem Emirat verlockend. Nicht alle können widerstehen. Die Herrscher von Doha haben keine Schwierigkeiten, Partner zu finden, ihren Einfluss zu vergrössern und ihr Image aufzupolieren.
Wie wollen wir zusammenleben? Nach allen vernünftigen Kriterien kann das Emirat Katar kein Modell sein. Das Sponsoring dient dem Regime zum Whitewashing. Es zerstört die Glaubwürdigkeit der betroffenen Institutionen. Einerlei, wie klug und sorgfältig sie sein mögen, die Beiträge an der Biennale sind von Beginn an diskreditiert. Die Reputation der teilnehmenden Aussteller ist gefährdet – unter anderem auch jene der ETH Zürich, die mit mehreren Projekten in Venedig beteiligt ist. Eine öffentlich finanzierte Hochschule, eine der besten der Welt, dient mit ihrem Namen bewusst oder unbewusst der Propaganda eines Unrechtsstaats.
Die Finanzierung erfolgt diskret
Es ist nicht klar, wer von der Finanzierung durch die Katari wusste. Man beschränkt sich auf einen Hinweis im Eingang der Ausstellungen – online ist darüber nichts zu finden, kein Logo, keine Pressemitteilung. Kaum verwunderlich: Die Veranstalter wissen, wie problematisch diese Finanzierung ist. Sie fürchten eine öffentliche Diskussion darüber.
In einer freiheitlichen Gesellschaft dürfen Ausstellungen nicht zuerst der Repräsentation dienen, sondern der Bewusstseinsbildung und dem öffentlichen Diskurs. Demokratien sind darauf vital angewiesen. Der Austausch muss möglichst vielen Stimmen zugänglich sein, er muss möglichst egalitär sein, und er muss aufrichtig und ehrlich geführt werden.
Und nein, es geht hier nicht um ideelle Werte, sondern um die Sicherheit von uns allen. Doppelte Standards sind eine reale Gefahr, und leider finden wir sie in vielen Bereichen, in der Wirtschaft und in der Aussenpolitik. Hier wird oft unterschieden zwischen jener, die sich an Interessen, und der anderen, die sich an Werten orientiert. So hatte die Schweiz noch letztes Jahr kein Problem, in Belarus eine Botschaft zu eröffnen und einen Diktator zu legitimieren. Wer dies kritisierte, wurde als Idealist hingestellt, der nichts von den wirtschaftlichen und strategischen Interessen verstand. Anderthalb Jahre und eine Flugzeugentführung nach Minsk später wissen wir, wohin diese Politik geführt hat. Jeder, der sich in Europa in eine Maschine setzt, muss von nun an damit rechnen, von Militärjets abgefangen zu werden.
Ähnlich wie die Banken brauchen unsere öffentlichen Institutionen dringend eine Weissgeld-Strategie. Ein entfesselter, rücksichtsloser Kapitalismus, der nur dem Machterhalt eines reaktionären, autoritären, homophoben und misogynen Regime dient: Für dieses Modell steht das Emirat Katar. Wer mit dem Geld dieser Clique ein Museum betreibt, eine wissenschaftliche Tagung organisiert oder eben eine Ausstellung finanziert, verliert nicht nur jedes Recht, im Namen der Menschenrechte, der Gleichberechtigung und der fairen Ressourcenverteilung zu sprechen. Nein, er verkauft diese Werte, die das Leben der zukünftigen Generationen sichern sollen, an Diktatoren, und genau auf diese Weise erleiden sie den Tod, den Tod in Venedig.