Um 13 Uhr ist Anpfiff. 60'000 Fans jubeln auf den Rängen des Al-Bayt-Stadions im Norden Katars. Während sich die Fussballer des Emirats bei schwülwarmen Temperaturen Pässe zuspielen, trinken die Zuschauerinnen und Zuschauer in Europa vor den Bildschirmen Tee und Glühwein.
Abseits der Fernsehkameras sucht eine Flugabwehrkanone den Himmel nach Drohnen und Raketen ab. Katarische Soldaten haben sie nur wenige Meter vor dem Stadion installiert. Es ist der 21. November 2022 – und das ist das wahrscheinliche Szenario für das Eröffnungsspiel der Fussball-Weltmeisterschaft.
Kanonen «made in Switzerland»
Gebaut werden die Kanonen in der Schweiz – mitten in Zürich-Oerlikon. Der Bund hat der Firma Rheinmetall Air Defence 2019 den Export der Flugabwehrsysteme bewilligt. Das zeigt eine gemeinsame Recherche von Blick und «Beobachter».
Fabian Ochsner steht stolz in einer der Fabrikhallen des Rüstungskonzerns und zeigt auf ein militärgrünes Flugabwehrsystem. Er arbeitet seit 37 Jahren für das Unternehmen, heute ist er hier der Chef. «Das ist erst ein Prototyp», erklärt er. Die beiden Flugabwehrsysteme für Katar werden im Herbst gebaut und im Frühling 2022 per Schiff oder Flugzeug an den Persischen Golf transportiert.
«Unsere Spezialität ist die Munition», sagt Ochsner. 17 Schüsse pro Sekunde kann die Maschine abfeuern. Jeder Schuss wird im Lauf des Kanonenrohrs programmiert, damit er in der Luft im richtigen Moment zerbirst. Schweizer Technologie auf Weltklasseniveau.
Das hat seinen Preis. Rund 200 Millionen Franken zahlen die Katari für zwei Flugabwehrsysteme. Es ist einer der grössten Rüstungsdeals der letzten 20 Jahre. Und er passt zum aktuellen Trend: Noch nie wurden derart viele Panzer, Gewehre und Geschosse aus der Schweiz exportiert wie 2020.
Fabian Ochsner betont, dass in Oerlikon ausschliesslich Verteidigungswaffen produziert würden. «Wir helfen Ländern, sich vor Angriffen aus der Luft zu schützen», sagt er. «Für uns ist das eine edle Aufgabe.»
6500 tote Arbeitsmigranten
Weniger edel sind die Arbeitsbedingungen in Katar. Laut der britischen Zeitung «The Guardian» starben seit der umstrittenen WM-Vergabe vor zehn Jahren über 6500 Arbeitsmigranten aus Indien, Pakistan, Nepal, Bangladesch und Sri Lanka im Golfstaat. Sie bauten unter extremer Hitze Stadien, Strassen und Hotels für das Fussballfest.
Eine niederländische Gärtnerei weigert sich seither, die Stadien mit Rasen zu beliefern. Mehrere Fussballer – die sich normalerweise hüten, politisch Stellung zu beziehen – protestierten gegen Menschenrechtsverletzungen. Den Anfang machten norwegische Spieler um Superstar Erling Haaland (20). Sie trugen vor einem Spiel T-Shirts mit dem Aufdruck «Menschenrechte – auf und neben dem Platz». Es folgten die Nationalteams von Deutschland, den Niederlanden, Dänemark und Belgien.
Das eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) von FDP-Bundesrat Ignazio Cassis (60) kam in seiner Beurteilung des Export-Gesuchs 2019 zum Schluss, dass die Menschenrechte in Katar – insbesondere aufgrund der Situation der Arbeitsmigranten und der eingeschränkten Meinungs- und Versammlungsfreiheit – «systematisch und schwerwiegend» verletzt werden. Dennoch stimmten sowohl das EDA als auch das federführende Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) dem Export der Flugabwehrsysteme zu.
Waffenexport trotz Menschenrechtsverletzung
Um den Entscheid zu verstehen, muss man einen Blick in die Kriegsmaterialverordnung werfen. Dort sind unter Artikel 5 die Kriterien für Waffenexporte aufgelistet. So darf etwa kein Kriegsmaterial in Länder geliefert werden, die in einen internen oder internationalen Konflikt verwickelt sind. Da Katar seit 2017 nicht mehr zur militärischen Allianz gehört, die im Jemen aktiv ist, sei das Geschäft bewilligungsfähig, schreibt das Seco.
Zudem verbietet die Kriegsmaterialverordnung Waffenexporte in Länder, die die Menschenrechte systematisch und schwerwiegend verletzen. Allerdings hat der Bundesrat dieses Kriterium 2014 gelockert. Seither darf Kriegsmaterial selbst in solche Länder geliefert werden, sofern «ein geringes Risiko» besteht, dass es für Menschenrechtsverletzungen eingesetzt wird. Das sei bei den Flugabwehrsystemen für Katar der Fall.
In der Praxis unterscheiden Bundesrat und Verwaltung zudem oft zwischen defensiven und offensiven Waffen. So schreibt das EDA, dass aufgrund der «Art der betreffenden Güter» keine zwingenden Ablehnungsgründe vorliegen. Und das Seco hält fest: «Flugabwehrsysteme sind grundsätzlich nicht für einen Einsatz bei schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen geeignet.» Ein Export sei daher ungeachtet der Menschenrechtssituation im Emirat möglich.
Export künftig schwieriger
Saskia Rebsamen (18) von der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) hält die Unterscheidung in offensive und defensive Waffen für sinnlos: «Wer Krieg führt, braucht immer auch eine Verteidigung. Das ist wie beim Fussball: Niemand geht nur mit Stürmern in ein wichtiges Spiel.» Zudem unterscheide das Kriegsmaterialgesetz nicht zwischen Angriffs- und Verteidigungswaffen. «Beides ist schlicht Kriegsmaterial», sagt die GSoA-Sekretärin.
Dass die Schweiz Waffen in Länder liefert, die Menschenrechte missachten, lehnt die GSoA grundsätzlich ab. Die Gruppe hat deshalb vor zwei Jahren gemeinsam mit Vertretern von SP, Grünen, GLP, BDP und EVP die sogenannte «Korrektur-Initiative» eingereicht. Diese will Waffenexporte in Länder mit schweren Menschenrechtsverletzungen verbieten – und damit den Bundesratsentscheid von 2014 «korrigieren».
Erfolg für Waffengegner
Einen ersten Erfolg konnten die Initianten bereits verbuchen: Der indirekte Gegenvorschlag, den der Bundesrat der Initiative gegenüberstellt, beinhaltet ein Verbot von Waffenexporten in Länder mit schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen. Die Regierung behält sich jedoch vor, unter bestimmten Umständen davon abzuweichen. Dieses Schlupfloch hat der Ständerat am Donnerstag aus dem Gegenvorschlag gestrichen. Bleibt auch der Nationalrat auf dieser Linie, werden die Initianten die «Korrektur-Initiative» wahrscheinlich zurückziehen.
Bis die neuen Regeln in Kraft sind, dürften die beiden Flugabwehrsysteme die Fabrikhalle in Zürich-Oerlikon bereits verlassen haben. «Wir hatten das Glück, dass das Aussendepartement dem Export nach Katar zugestimmt hat», sagt Firmenchef Fabian Ochsner. Künftig wäre ein derart grosser Deal mit einem Land, das Menschenrechte systematisch verletzt, deutlich unwahrscheinlicher.
Konflikte im Nahen Osten
Freuen kann sich auch der katarische Herrscher Tamim bin Hamad Al Thani (41). Er, der an der britischen Militärakademie Sandhurst ausgebildet wurde, rüstet das Emirat massiv auf. Jüngst hat er die Luftwaffe mit rund 100 Kampfjets von Dassault, Airbus und Boeing ausgestattet. Auch Militärschiffe aus der Türkei, Panzer aus Deutschland und Raketen aus China kauft das Emirat mit den Öl-Milliarden.
Katar sei bestrebt, eine Regionalmacht zu werden, sagt Pieter Wezeman vom Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri. Das ist im Nahen Osten meist kein gutes Zeichen. «Es besteht die Gefahr, dass das Land in zukünftige Konflikte verwickelt wird und die Flugabwehrsysteme dort zum Einsatz kommen», sagt der Nahost-Experte. Auch dem Bund dürfte das bewusst gewesen sein – dennoch hat er die Waffenlieferung bewilligt.
Diese Recherche ist im Zusammenhang mit der Diplomarbeit an der Ringier Journalistenschule entstanden. Ladina Triaca (Blick) und Lukas Lippert (Beobachter) gehören zur aktuellen Klasse, die die zweijährige Ausbildung im Sommer 2021 abschliesst.
Diese Recherche ist im Zusammenhang mit der Diplomarbeit an der Ringier Journalistenschule entstanden. Ladina Triaca (Blick) und Lukas Lippert (Beobachter) gehören zur aktuellen Klasse, die die zweijährige Ausbildung im Sommer 2021 abschliesst.