Während im Jahre 85 nach den nationalsozialistischen Novemberpogromen wieder Massaker gegen Jüdinnen und Juden verübt werden, gebärdet sich in den westlichen Gesellschaften, auch in der Schweiz, der Antisemitismus von Tag zu Tag ungenierter. Seit dem 7. Oktober werden jüdische Menschen täglich angepöbelt, angespuckt, bedroht, beleidigt. Eine unerträgliche, unannehmbare Entwicklung.
Was sie zu einer Schande macht, ist das beredte Schweigen der Mehrheitsgesellschaft. Die Reaktionen sind im besten Fall halbherzig. Nach der ritualisierten Verurteilung der Gewalt der Hamas folgt zu oft das grässliche «aber». Es bedeutet: Juden seien selbst schuld, sie würden diese Gewalt provozieren, so klingt die Relativierung, die stereotype und antisemitische Rechtfertigung des Massenmordes an unschuldigen Menschen.
Antisemitismus ist kein Randphänomen, keine extremistische Übertreibung. Er wirkt in der Mitte der Gesellschaft, er ist Teil unserer Geschichte, Teil der politischen, religiösen Ideologien von rechts bis links. Antisemitismus kommt in allen Schichten vor, in jeder Generation, bei Gebildeten wie Ungebildeten, bei sämtlichen Geschlechtern. Wie andere Idioten auch, sind Antisemiten gerecht über die Welt verteilt.
«Patriotism is the last refuge of scoundrel», meinte Samuel Johnson, Patriotismus sei die letzte Zuflucht eines Halunken, und dasselbe lässt sich vom Antisemitismus sagen. In einer Zeit der Kriege und der Krisen werden sichere Rückzugspunkte knapp. Der Hass auf Juden bietet sich als Lösung an. Er verschafft das wohlige Gefühl, die Schuldigen definiert zu haben, er verschafft eine leichte, erprobte Orientierung.
Die Methode ist immer dieselbe. Jüdinnen und Juden werden symbolisiert und ent-individualisiert. Sie werden instrumentalisiert zu reinen Stellvertretern eines feindlichen Systems, das man selbst erfunden hat, und je nach ideologischer Anschauung fallen den Juden unterschiedliche Rollen zu.
Die nationalistische Rechte bezieht ihre Ideologie auf das Vaterland, auf die Heimat. Juden in der Diaspora mussten ein sicheres Territorium die längste Zeit entbehren und galten als sogenannte «Vaterlandslose Gesellen», unzuverlässig. Als Staatsbürger unerwünscht.
Bei Linken müssen jüdische Menschen als Repräsentanten für das verhasste internationale Finanzkapital herhalten. Wiederkehrende linke Antisemitismen sind der Wucherer, der Halsabschneider, der Blutsauger, der Finanzmogul. «Die Rothschilds» ist eine so beliebte wie niederträchtige Chiffre.
In den marxistischen Klassikern ist Antisemitismus eine Konstante, beginnend mit dem Gründervater Karl selbst. Seine widerliche Schrift «Zur Judenfrage» aus dem Jahre 1843 schliesst mit dem Satz: «Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum.» Allein diese Schrift des Sohnes eines konvertierten Juden bezeugt, wie konform Antisemitismus unter den progressiven Kräften war.
Und nur wenige seiner Apologeten haben sich ernsthaft mit der Frage beschäftigt, wie stark der Marxismus antisemitisch grundiert ist. Aber der linke Antisemitismus ist kein Detail, keine lässliche Sünde, kein Nebenwiderspruch. Man macht damit bis heute erfolgreich Wahlkampf.
Die linken Antisemiten bedienen sich dabei einer perfiden Taktik. Da Juden in der Diaspora eine verschwindende Minderheit darstellen und es schwierig ist, aus wenigen eine Bedrohung für die Mehrheit zu konstruieren, erfindet man zum Zweck der politischen Propaganda eine «unsichtbare Mehrheit», ein Netz, dessen Fäden weltumspannend ist. Und an diesen Fäden ziehen natürlich immer die Juden.
Und reicht dieses Motiv nicht, bedient man sich des Antizionismus. Hier trifft sich die Linke mit der postkolonialen Theorie. Der Staat Israel ist für sie ein weisses, koloniales Projekt und deshalb ohne Existenzberechtigung. In einer ebenfalls üblichen Täter-Opfer-Umkehr wird die Geschichte dieses Staates, wird die Shoa, der sechsmillionenfache Mord, buchstäblich totgeschwiegen.
Wiederkehrender Fluchtpunkt ist Antisemitismus auch in der grünen Bewegung. Er folgt auf die autoritäre Sehnsucht, sich universellen, «natürlichen Gesetzen» unterzuordnen. Sie findet Ausdruck in unterschiedlichen magischen Vorstellungen. So braucht die «Alternative Medizin» ein Feindbild. Der Begriff «Schulmedizin» ist gang und gäbe und wird nicht nur von Impfgegnern und Homöopathen verwendet, obwohl seine antisemitischen Konnotationen hinlänglich untersucht sind.
Esoterische Ideen sind autoritär und antidemokratisch. Zugang zu einer gewissen Lehre erhält der Novize durch eine Initiation, durch die Einführung in den Kult. Dies geschieht durch den Meister, der die Wahrheit gesehen hat, ein Guru wie zum Beispiel der Antisemit Rudolf Steiner. Sein Judenhass scheint nur wenige zu betreffen. Die extreme Ideologie, die «Anthroposophie», hat einen sicheren Platz in der Gesellschaft, und die Produkte der «bio-dynamischen Landwirtschaft», nichts als irrationaler Obskurantismus, stehen zuvorderst in den Regalen der Grossverteiler.
Nun mag man argumentieren: Gewiss hat das «biodynamische Präparat 502», mit dem die anthroposophische Landwirtschaft arbeitet, und das aus in einer Hirschblase fermentierten Schafgarbenblüten besteht, die Wirkung von gewöhnlichem Hauskompost – aber vermutlich wird es genauso harmlos sein. Ist gegen diesen Blödsinn deshalb republikanische Toleranz angebracht?
Leider ganz und gar nicht. Die esoterische Praxis kann nicht von der Ideologie getrennt werden. Wer obskure, antisemitisch grundierte Ideen in der Landwirtschaft, in der Kosmetik oder bei der Erziehung seiner Kinder gutheisst, wird sie in der Politik nicht von vornherein zurückweisen. Und bis heute hat die grüne Bewegung den inneren Widerspruch nicht aufgelöst, dass sie auf der einen Seite die Notwendigkeit einer evidenzbasierten Wissenschaft zur Bekämpfung der Klimakatastrophe propagiert und gleichzeitig unwissenschaftlichen, totalitären Unsinn verbreitet.
In einer Demokratie bedeutet der Angriff auf eine Minderheit ein Angriff auf alle. Der Kampf gegen Antisemitismus ist deshalb die erste Aufgabe des Staates. Er hat die Sicherheit aller Menschen auf seinem Territorium zu gewährleisten und notfalls mit dem Gewaltmonopol durchzusetzen. Dieser Kampf muss koordiniert geführt werden: in den Behörden, den Schulen, den Universitäten. Das geschieht leider nicht.
So taucht in der bundesrätlichen «Verfügung über die Einsetzung der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus» aus dem Jahre 2019 der Begriff «Antisemitismus» überhaupt nicht auf. Zudem ist sie ein zahnloses Gremium, nicht auf der Höhe der Aufgabe. Die Kommission soll die Öffentlichkeit informieren, Vorschläge und Empfehlungen erarbeiten und den Rassismus bekämpfen, aber sie hat keine Weisungsbefugnis.
Wie wichtig dem Bund diese Kommission ist, zeigt sich an ihrem Budget. Es sind keine 200'000 Franken pro Jahr. Das neue Parlament ist dringend aufgefordert, dieses Mandat zu überarbeiten und die Mittel aufzustocken.
Der Kampf gegen Antisemitismus muss fester Bestandteil der Lehrpläne werden. Die deutsche Sprache ist versetzt mit Begriffen, die sich gegen jüdische Menschen richten. «Mauscheln» und «schachern» gehören dazu. Auch hier braucht es Aufklärung – und sie muss stetig, nachhaltig und unaufhörlich sein.
In der Wirtschaft sind antisexistische Workshops längst Alltag, nun müssen systematisch Schulungen im Erkennen und Bekämpfen von Antisemitismus folgen.
In einer Demokratie hat niemand das Recht, auf den Staat, auf die Wirtschaft, auf die Institutionen zu warten. Das Einschreiten gegen Judenhass ist Bürgerpflicht. Wer Antisemitismus sieht oder hört, muss einschreiten, laut werden, Solidarität zeigen – und zwar jetzt, hier, immer.