Nun ist es warm geworden, von einer Woche zur andern, die Magnolien sind schon wieder verblüht, die Felder stehen grün, die Wolken hoch. Zwei Wochen noch dauert dieser Frühling, er endet mit dem längsten Tag am 21. Juni.
Die Jahreszeiten prägen unser Leben. Ihr Wechsel gibt den Rhythmus vor, er treibt uns weiter, lässt uns niemals stillstehen im Tanz des Lebens.
Ein Geschenk des Universums
Was gerade noch unmöglich schien, wird im Frühling zu einer Selbstverständlichkeit. Man sitzt jetzt wieder in den Gärten, in der Blumenpracht, manche mögen die Pollen reizen, niesen, schnäuzen, und doch werden auch sie belebt von der Wärme, der Sonne. Serotonin, der Stoff der Ekstase, erhöht den Tonus, die Verdauung, den Hormonhaushalt, die Östrogene, und wunderbarerweise braucht niemand dafür zu bezahlen, nichts zu tun, ein Geschenk des Universums, zu dem wir gehören. Der Tagbogen wölbt sich, wächst, die Erdachse, zu unser aller Glück, macht sich nichts aus rechten Winkeln, mit einer Neigung von 66,6 Grad dreht sich der Planet um sein Zentralgestirn, und so verändert sich der Einstrahlwinkel und die Bestrahlungsstärke. Astronomie. Also Geometrie. Trigonometrie. Ekliptik. Sphärenphysik. Abstrakt und theoretisch – und doch von ungeheurer praktischer Wirkung.
Wie nannte der liebe Nikolaus Kopernikus seine Schrift, mit der er im Jahre 1543 das heliozentrische Weltbild etablierte und die Jahreszeiten galaktisch definierte? «De revolutionibus orbium coelestium».
Unsere Frühlinge sind gezählt
Das Prinzip des Frühlings ist das Prinzip der Revolution. Es ist der ewige Umsturz des Bestehenden. Das Leben, was immer es auch bringen mag, Freude oder Leid, geht weiter. Wir werden alle älter, und am Ende sind wir alle tot. Das ist der Preis für die Verwandlung. Unsere Frühlinge sind gezählt, für alle, man mag ihnen besser gewahr werden, diesen hier, als wäre es der erste, der letzte, riechen, kosten, schmecken. Schon bald werden auch wir die Welt in ihrer Blüte den nächsten Generationen überlassen müssen. Das ist gesetzt, für alle. Der Zauber in allem Anfang ist der Zauber der Vergänglichkeit, erst sie gibt uns die Freiheit, sie selbst ist das Leben.
Man könnte daraus lernen. Man könnte daraus eine Politik versuchen. Aus dem Wissen, wie stetig die Verwandlung ist, lässt sich eine Ethik definieren. Die Literatur, der menschliche Geist, der sich aus der Erfahrung schöpft, weiss von der Schönheit und der Grausamkeit des ewigen Wandels. Frühlingserwachen bleibt nicht immer friedlich. Die Unvermeidlichkeit der Zeit, die uns alle mitreisst und schliesslich, am Ende, zerreisst, stellt allen eine Frage.
Die Systeme, die wir Menschen errichten, in denen wir leben, die uns bestimmen, denen wir nicht entkommen, die wir versuchen, in unserem Sinne zu verändern, sie sind eine Antwort auf den Frühling, auf die Zyklen, die wir erkennen, aber nur schlecht deuten können. Und selbst wenn es uns gelingt, hilft die Erklärung am Ende nicht. Dieser Revolution entkommen wir nicht. Wir haben sie anzunehmen, zu gestalten, zu formen und zu feiern.
Wir sind der Witterung nicht ebenbürtig
Erst die Tat, die Handlung, die Geste, die gefordert ist und die verändert, erst das tätige Leben gibt dem Frühling eine Antwort. Dazu gehört ebenso das Unterlassene. Es beweist, dass wir eine Entscheidung getroffen haben. Es gibt keine Ausrede. Wir sind Teil einer Geschichte, und unser Kapitel wird bald geschlossen werden.
Warum nicht versuchen, daraus eine Schönheit zu formen, eine Politik? Der Frühling gibt uns Möglichkeiten, er zeigt uns neue Wege.
Wir Menschen fürchten uns vor der Witterung. Wir sind ihrer nicht ebenbürtig, noch immer nicht, und das Klima zu verändern, bedeutet nicht, es zu beherrschen. Die Furcht ist begründet, das Wetter wirkt gewaltig, und zugrunde liegt den Wolken und den Winden die ewige Verwandlung, als Drohung und Verheissung, und daraus liesse sich Kraft schöpfen für das Zusammenleben, für die Politik, in den Gemeinden, in den Städten, im Land, auf dem Kontinent. Wir könnten uns fragen, wie wir alt werden wollen, wie wir unseren Liebsten das Alter wünschen. Wir könnten uns fragen, welche Beziehung wir zu den Menschen in unserer Nachbarschaft wünschen, im Viertel und europäisch.
Unglück schafft sich der Mensch selbst
Politik braucht die Freude an der Veränderung, eine Affirmation der Zukunft, von der wir nichts wissen, als dass sie Veränderung bringt. Jede Politik, die das Leben bejaht und nicht den Tod, ist progressiv.
Die Frage der Philosophie: Wie willst du sterben?
Die Frage der Politik: Wie willst du leben?
Vor der Witterung müssten wir uns weniger fürchten, wenn wir uns selbst besser behandeln würden, vor allem jene, die ihr schutzlos ausgesetzt sind. Die Menschen auf dem Mittelmeer in ihren brüchigen Schiffen, ausgesetzt den Winden und den Gezeiten. Jene, die ausgebombt werden in ihren Häusern, mitten in der Nacht, die flüchten müssen, bei Sturm und Regen.
Die Familien, deren Leben, Untergrund erodiert, die ihre Häuser verlassen müssen, weil der Berg ins Tal stürzt, der Fluss über die Ufer tritt: auch für sie wird es Frühling. Auch sie haben ein Recht auf Veränderung. Wenn wir ihr Schicksal zu unserem machen, wenn ihr Leid unsere Verantwortung wird, wird die Angst kleiner, ihre und unsere.
Das Unglück schafft sich der Mensch zum grössten Teil selbst. Und auch der Umkehrschluss bleibt gültig: Der Mensch schafft sich selbst das Glück.
Der Frühling ist revolutionär
Eines Tages werden wir hinfällig und bedürfen der Fürsorge. Die Jugend währt nicht ewig. Auch das zeigt uns der Frühling. Aber die Jugend ist jedem Lebewesen enthalten, einerlei, wie alt es ist, sie ist verteilt und lebt auch in an Jahren alten Menschen und selbst in Ideen, in Gedanken findet man ihre Kraft, ihr Tanz der Veränderung. Progressiv und empathisch.
Mehr von Lukas Bärfuss
Der Frühling ist revolutionär, er verwandelt gleichmässig, gerecht ist er nicht. Gerechtigkeit ist eine Kategorie der Menschen und der Menschlichkeit – wie oft wird sie bestritten, wie oft wird sie negiert, jeden Tag im Krieg, jede Woche in der Armut. Und doch bleibt sie, und noch im tiefsten Leid entdeckt der Mensch die Veränderung. Bis zu letzten Atemzug bleibt er an ihr hängen und zieht aus ihr die Hoffnung.
Hoffnung ist eine existenzielle, keine politische Grösse. Auf der Hoffnung lassen sich weder Institutionen noch Waffen bauen, mit der Hoffnung bekommen wir die Rente nicht finanziert. Der Zukunft genügt die Hoffnung nicht. Sie will erfahren werden, ergriffen, erlebt auf jeden Fall.
Im Frühling geschehen die schönsten und die schrecklichsten Sachen. Das gilt für jede Jahreszeit.