Die Affäre um die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments bedient sämtliche Sensorien der menschlichen Sensationslust, den Voyeurismus, die Schadenfreude und den Ekel. Eine luxussüchtige Politikerin lässt sich von einem arabischen Staat schmieren und kennt keine Scham, dessen Verbrechen vor der Öffentlichkeit in einen Lobgesang auf die menschliche Entwicklung und die transformatorische Kraft des Fussballs zu verwandeln. Ein älterer Italiener als Puppenspieler, der alle Fäden in der Hand hält. Ein verführter Idealist, der reuig zu seinen Schandtaten steht und alle Schuld auf den Puppenspieler schiebt. Ein Staatsanwalt, der die Politik für unrettbar verdorben hält und in seiner Freizeit Thriller schreibt – der Gruseleffekt gewisser Figuren in diesem Skandal übersteigt kaum die Schaubudenqualität einer minderen Geisterbahn. Dazu kommen die genretypischen Requisiten: Koffer voll Bargeld, teure Liegenschaften, exklusive Wochenendtrips – der Skandal folgt den Merkmalen einer billigen Posse.
Skandale laufen nach einem Muster ab
Jeder Korruptionsskandal folgt einem Muster. Nicht nur die Figuren, auch die Reihenfolge der Akte ist festgelegt. Auf die Entdeckung der unmoralischen Machenschaften folgt die allgemeine Empörung. Die beschmutzten Institutionen müssen durch das Fegefeuer der öffentlichen Entrüstungen gereinigt werden. Die verdorbenen Sitten verlangen ein Bekenntnis der Gerechten, auch weiterhin auf dem Pfad der Tugend zu bleiben.
Das Tribunal wird einberufen und fällt das Urteil. Die Schuldigen werden bestraft. Das Rachebedürfnis ist gestillt. Der Skandal wird vergessen. Er war schmerzhaft, aber in seiner Wirkung heilsam. Eine Gesellschaft wird sich ihrer Gefährdung bewusst. Die Korruption bedroht die gerechte Ordnung. Nun sind wir wieder aufmerksam.
Der Skandal betrifft das Europäische Parlament, aber gerade in der Schweiz ist seine heilende Wirkung gross. Haben wir nicht immer gewusst, wie verdorben und wie korrupt die EU ist? Wie gut, haben wir das erkennt, wie gut, sind wir nicht Mitglied in diesem verdorbenen Verein! Nein, in der Schweiz würde es einen solchen Skandal niemals geben. Aber nicht, weil hierzulande die Sitten noch intakt sind, nein, in der Eidgenossenschaft gehört wirtschaftliche Einflussnahme zum politischen System.
Meinungsbildung in der Schweiz wird beeinflusst
Im Juni 2021 lehnte die Stimmbevölkerung das CO2-Gesetz ab. Die erfolgreiche Nein-Kampagne wurde von der Erdölindustrie mitfinanziert. Bereits für die Unterschriftensammlung legten die Petromultis BP, Shell und Socar Geld zusammen. Das ist kein Geheimnis, kein Skandal, und es ist allgemein bekannt und akzeptiert. Die oberste Behörde des Landes, der Bundesrat, bestätigte schriftlich die Käuflichkeit der Politik. Auf eine parlamentarische Anfrage antwortete die Landesregierung, es gebe in der schweizerischen Rechtsordnung weder Beschränkungen noch Regelungen zur Offenlegung der Finanzierung. Daher stehe es nach «aktueller Rechtslage auch multinationalen Unternehmen frei, politische Kampagnen finanziell zu unterstützen». Es lasse sich nicht verhindern, «dass Unternehmen und Personen aus dem Ausland Referenden und Kampagnen finanziell unterstützen und damit versuchen, die Meinungsbildung der Schweizer Stimmbevölkerung zu beeinflussen».
Eine bittere Diagnose, aber für die Regierung kein Problem. Die Argumente des Bundesrats? Zuerst beschwichtigt er. Der Einfluss des Geldes auf politische Entscheide dürfe «nicht überschätzt werden», er bezweifle, «dass die finanziellen Mittel in unserem politischen System einen überwiegenden Einfluss auf das Ergebnis von Wahlen und Abstimmungen haben».
In der Schweiz soll das Geld plötzlich keine Rolle spielen? Denkt der Bundesrat, seine Bevölkerung sei gegen Korruption immun? Natürlich nicht. Es bestehe das Risiko, dass die Funktionsfähigkeit unserer direkten Demokratie infolge der ausländischen Finanzierung beeinträchtigt würde, es sei allerdings «begrenzt».
Korruption gehört zum System
Wodurch diese Begrenzung zustande kommt, das erklärt der Bundesrat nicht. Aber er liefert eine Erklärung, warum er die Transparenz-Initiative, die eine Offenlegung der Finanzierung von Abstimmungskampagnen verlangte, ablehne. Transparenz sei «mit den Eigenheiten des schweizerischen politischen Systems – bzw. mit der direkten Demokratie und dem schweizerischen Milizsystem – kaum vereinbar». Wenn diese Korruption zum System gehört, muss man nicht dagegen vorgehen. Und so habe der Bundesrat keine Absicht, «in dieser Sache gesetzgeberisch tätig zu werden».
Auf Aussenstehende mag diese Haltung abseitig wirken. Aber die Regierung ist damit nicht allein. Auch die Mehrheit der Staatspolitischen Kommission des Ständerats kam im vergangenen Oktober zum selben Schluss. Interessenbindungen seien nicht nur Teil des Parlamentsmandats, nein, die seien ausdrücklich erwünscht. Erst dadurch verfügten die Ratsmitglieder über «Praxiskenntnisse, die sie anders nicht erwerben könnten». Es sei nicht opportun, die entsprechende parlamentarische Initiative anzunehmen und die Bezahlung der sogenannten Nebenmandate der Abgeordneten offenzulegen. Erstens könnten daraus keine Schlüsse auf die Unabhängigkeit der Ratsmitglieder gezogen werden, und ferner würde damit nur «eine gewisse Neugier» gestillt.
Eine gewisse Neugier: Wer in der Schweiz wissen will, woher das Geld in der Politik kommt, gilt als voyeuristisch, frivol und indiskret. Und im Gegensatz zur EU, wo man sich an gekauften Stimmen stört, singen die Goldkehlen hierzulande ganz unbelastet die Lieder ihrer Geldgeber, wie etwa ein Genfer Nationalrat. Er meinte, die aserbaidschanische Ölfirma Socar gegen Angriffe in Schutz nehmen zu müssen. Das Unternehmen hatte für den Angriffskrieg gegen Armenien Propaganda gemacht. Für ihn war das ganz in Ordnung. Es seien die Linken, die jeden wirtschaftlichen Erfolg zerstören wollten. Der Nationalrat ist Verwaltungsrat des Genfer Flughafens, an dessen zentraler Infrastruktur Socar beteiligt ist. Wie hoch die Entschädigung des Nationalrats ist, muss er nicht offenlegen. Wir wissen nur, wie er die Kritik an Socar findet, nämlich «billig».
Mit der nächsten Legislatur erhält die Schweiz nun doch ein Transparenz-Gesetz. Alles gut also? Leider nicht. Erstens ist dieses Gesetz löchrig wie ein Käse. Die Freibeträge sind genügend hoch angelegt, damit die gewünschte Einflussnahme, oder wenn man will, die Korruption, weiterhin möglich ist. Und zweitens wird die Verfolgung dieser neuen Straftat kaum möglich sein. Das jedenfalls ist die Meinung der Regierung. Seine Ablehnung der Vorlage begründete der Bundesrat auch damit, dass «die Verhinderung der Umgehung einer allfälligen Regelung schwierig sein dürfte». Man weiss nicht, ob man darin Resignation oder Erleichterung hören soll. Ein Skandal, jedenfalls, ist auch in Zukunft nicht zu fürchten.
In einer früheren Fassung hiess es fälschlicherweise, Francesco Giorgi habe die Schuld auf seine Partnerin Eva Kaili abschieben wollen. Wir entschuldigen uns für den Fehler.