Lukas Bärfuss über das Lieferverbot der Gepard-Munition an die Ukraine
Die Schweiz verrenkt sich bis zum Gehtnichtmehr

Was bedeutet Neutralität in Kriegszeiten? Der Bundesrat versucht es mit seinem Bericht «Klarheit und Orientierung in der Neutralitätspolitik» zu definieren – und hat ein empörendes Zeugnis der eigenen Orientierungslosigkeit geschaffen.
Publiziert: 06.11.2022 um 10:05 Uhr
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Lukas BärfussSchriftsteller

Während allenthalben von einer «Zeitenwende» die Rede ist, quält sich die Schweiz mit identitätspolitischen Altlasten herum, murkst sich durch die diplomatischen Verstimmungen und hofft auf Gott den Allmächtigen, dessen Namen sie in der Präambel der Bundesverfassung so fromm anruft.

Derweil schmelzen die internationale Reputation und die Glaubwürdigkeit schneller als die Alpengletscher. Die Verrenkungen, die zur Rechtfertigung längst unhaltbarer Positionen unternommen werden, kann man jetzt täglich bewundern.

So veröffentlichte das Wirtschaftsdepartement in Bern am vergangenen Freitag ein dürres Communiqué von neunzehn Zeilen. Der Vorsteher habe im Auftrag des Bundesrats gleichentags ein Schreiben der deutschen Verteidigungsministerin beantwortet. Die verlangte Weitergabe von 12'400 Patronen für den Flugabwehrpanzer Gepard an die Ukraine könne nicht bewilligt werden, «solange diese in einen internationalen Konflikt verwickelt sei».

Mit derselben Logik müsste man einem Vergewaltigungsopfer die Hilfe verweigern, solange es in einen «Beziehungskonflikt verwickelt sei». Tatsächlich wird die Ukraine seit über zweihundertfünfzig Tagen von einem aggressiven, imperialistischen und faschistischen Nachbarn mit einem Vernichtungskrieg überzogen.

Die Stadt Saporischschja wurde von Russland mit Raketen beschossen.
Foto: DUKAS

Man mag diese sprachliche Verbiegung der Wirklichkeit bewundern oder sich angewidert von diesem Zynismus abwenden, erstaunt darf niemand sein, der den Mut hatte, den bundesrätlichen Bericht «Klarheit und Orientierung in der Neutralitätspolitik» vom 26. Oktober einer Lektüre zu unterziehen. Schon der Titel verlangt eine grosse, gedankliche Flexibilität. Der magistrale Rapport ist nämlich genau das Gegenteil. Ganz und gar nebulös, ein Zeugnis für die Orientierungslosigkeit, mit der unsere Regierung einen Ausweg aus der neutralitätspolitischen Sackgasse sucht.

Er hat diesen Bericht übrigens nicht aus freien Stücken erstellt. Die Aussenpolitische Kommission des Ständerats hatte ihn Anfang April in einem Postulat gefordert. An der Abfassung waren das Aussen-, das Verteidigungs-, das Wirtschafts- und das Justizdepartement beteiligt, die Bundesverwaltung wurde konsultiert und eine Expertenkommission angehört. Das Resultat? Ein siebenundzwanzig Seiten dünnes Paradox, angereichert mit einem Glossar, das allerdings nichts zur Klärung beiträgt.

Der vierfarbige Atomkern

Die ersten Kapitel, gewissermassen als Zeilenschinderei, sind der Definition und der historischen Entwicklung der Neutralität gewidmet. Man findet nichts, was über den entsprechenden Wikipedia-Artikel hinausgeht – mit einer einzigen, allerdings bizarren Ausnahme. Wer es bis auf Seite 4 geschafft hat, der wird von der Darstellung eines vierfarbigen Atomkerns überrascht. Will der Bundesrat die Bedrohung durch die Atomwaffen der besorgten Bevölkerung anschaulich machen? Will er zeigen, wie wichtig es sei, sich nicht in fremde Händel zu mischen?

Mit dieser Grafik versucht uns der Bundesrat in seinem Bericht die Neutralität zu erklären.

Nein, die hübsche Grafik erläutert lediglich das Verhältnis zwischen Neutralitätspolitik und Neutralitätsrecht. Wie der Atomkern mit Protonen und Neutronen bestehe das Neutralitätsrecht aus Rechten und Pflichten, und wie die Elektronen in der Atomhülle bewege sich auch die Neutralitätspolitik flexibel, aber in einem abgegrenzten Bewegungsraum.

Der didaktische Gehalt dieser Abbildung bleibt schleierhaft, eine frivole Arabeske in einem Bericht, der sich selbst von Trostlosigkeit der schweizerischen Situation ablenken muss. Der Bundesrat erkennt durchaus die «geografische Bruchlinie», die sich seit dem Krieg in der Ukraine öffne. So sei die Wahrnehmung der schweizerischen Neutralität in Asien, dem Nahen und dem Mittleren Osten und in Lateinamerika zwar wenig differenziert, aber überwiegend positiv. In Europa und im angelsächsischen Raum dagegen habe das Verständnis abgenommen. Anders formuliert: Die Neutralität beeindruckt nur Länder, die mit unserem Land Matterhorn, Toblerone und das Alphorn in Verbindung bringen. Alle, die uns wirklich kennen, lassen sich von dem Neutralitätsgerede nicht mehr hinters Licht führen – leider gehören dazu unsere Nachbarn und wichtigsten Handelspartner. Der Neutralität, so der Bericht, würde in Europa kaum mehr eine Wirkung auf die Sicherheit zugebilligt, nun würden die EU und die Nato als Sicherheitsgaranten «gelten» – und man achte auf die Verben! Gewiss hätte Putin ohne die Waffenlieferungen aus Europa und vor allem aus den USA die Ukraine längst eingenommen, aber für den Bundesrat scheint diese Tatsache eine unbelegte Behauptung zu sein.

Die Schweiz erlaubt Deutschland nicht, Munition für die Gepard-Panzer an die Ukraine zu liefern.
Foto: Keystone

Türme des Widerspruchs

Natürlich weiss unsere Regierung, wie sehr die Anerkennung ihrer Politik mit der Glaubwürdigkeit ihrer Handlungen zusammenhängt. Aber sie scheint gleichzeitig eine Lust zu verspüren, Widerspruch auf Widerspruch zu türmen. Das führt in diesem Bericht zu empörenden Passagen.

Eine der Pflichten der neutralen Staaten, so der Bundesrat, bestehe im Gleichbehandlungsgebot kriegsführender Staaten. Werde der Export und der Transport von kriegsrelevantem Material für eine Kriegspartei beschränkt, so müsse diese Beschränkung auch auf die andere Partei angewandt werden. Diesen Forderungen des Neutralitätsrechts sei die Schweiz vollumfänglich nachgekommen. So habe der Bundesrat «konkret verhindert», dass die Ukraine mit militärischem Material «als Kriegspartei begünstigt» wurde. Es scheint, als sei unsere Regierung auf diese zynische Politik durchaus stolz, die de facto der Ukraine das Recht auf Notwehr und damit letztlich das Existenzrecht abspricht, durchaus stolz.

Lukas Bärfuss vergleicht die Wahrnehmung der Neutralität mit jener von Toblerone.
Foto: Philippe Rossier

Sonst würde sie kaum hinzufügen, dass sie das Sendeverbot russischer Medien nicht übernommen habe, da sie dies nicht mit der «schweizerischen Auffassung der freien Meinungsäusserung als vereinbar erachte».

Russische Propaganda, die Hetze gegen die Ukraine, gegen Schwule, Oppositionelle, die Untergrabung westlicher Demokratien durch Desinformation – das alles scheint für unsere Regierung eine neutralitätspolitische Pflicht zu sein.

Der Bericht kommt nicht umhin, die veränderte Weltlage zu attestieren. Der Angriff Russlands auf die Ukraine «sei ein Frontalangriff auf die Uno-Charta und das Völkerrecht und stelle vermeintliche Gewissheiten fundamental infrage». Russland habe «die europäische Friedensordnung zum Einsturz gebracht». Entsteht dadurch die Notwendigkeit, etwas an der eigenen Politik zu ändern? Nein, denn diese Statements sind bloss Redensarten. Und mit welcher Verrenkung passt der Bundesrat durch die schmale Lücke seiner widersprüchlichen Argumentation? Ganz einfach: Zwar habe die Uno-Vollversammlung bereits im März mit 140 zu 50 Stimmen, darunter auch jene der Schweiz, eine Resolution angenommen, in der die Aggression Russland verurteilt werde. Entscheidend für die Anwendbarkeit der Neutralität sei allerdings der Sicherheitsrat, und der habe bisher keine Massnahmen beschlossen. Was kaum erstaunt. Der Aggressor Russland hält einen ständigen Sitz und kann alle Entschlüsse mit einem Veto verhindern.

Kundgebung in Zürich nach dem russischen Angriff im Februar.
Foto: Keystone

So sieht die Neutralitätspolitik des Bundesrats aus: Man stimmt für eine Resolution und folgt dann den Interessen des Aggressors, der genau diese Resolution verhindert hat. Und man versteht plötzlich, warum diese verquere und unmenschliche Logik nur mit nuklearen Symbolen erklärt werden kann.

Schlangenöl und Bänderriss

Das Fazit des Bundesrats? An der Neutralitätspolitik gebe es nichts zu ändern. Die letztmals 1993 festgehaltene Praxis würde «weiterhin einen genügend grossen Handlungsspielraum» lassen. Allerdings müsse die Neutralität global verstanden und anerkannt werden, und deshalb sei es Aufgabe der schweizerischen Diplomatie, ihren Nutzen greifbar zu machen.

Man darf diese Diplomatie aufrichtig bemitleiden. In den nächsten zwei Jahren muss sie ihre Kunststücke auf grosser Bühne, im Uno-Sicherheitsrat, vorführen. Es wird viel Schlangenöl benötigen, um die Gelenke geschmeidig zu halten. Die diplomatische Kontorsion wird sich neue Übungen ausdenken müssen, um in die immer kleiner werdende Kiste der internationalen Beziehung zu passen. Aber irgendwann kommt die Beweglichkeit selbst der grössten Artisten an ihre natürlichen Grenzen. Die Gelenke knacken, die Bänder reissen, das Publikum wendet entsetzt den Blick ab.

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