Lukas Bärfuss über den ausgetrockneten Lac des Brenets
Die Verschwörung des Schweigens

Der Lac des Brenets im Jura ist komplett ausgetrocknet. Die Politik schweigt, weil der See für die Wirtschaft keine Bedeutung hat. In ihren Reden verschleiern die Politiker die schmerzhafte Wirklichkeit, schreibt Schriftsteller Lukas Bärfuss.
Publiziert: 20.08.2022 um 14:33 Uhr
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Aktualisiert: 22.08.2022 um 12:52 Uhr
Der ausgetrocknete See Lac des Brenets im Jura.
Foto: keystone-sda.ch
Lukas Bärfuss

Menschen haben verschiedene Methoden und Strategien, um die unangenehme und schmerzhafte Wirklichkeit zu verdrängen und selbst im Angesicht einer tödlichen Bedrohung die Normalität zu behaupten.

Am Mittwoch, dem 17. August 2022, meldeten die Nachrichtenagenturen, dass der Lac des Brenets, ein natürlicher Stausee des Doubs an der Grenze zu Frankreich, nun endgültig ausgetrocknet sei. Es war ein angekündigter Tod, schon in der Dürre des Sommers 2018 war der Pegelstand so niedrig gewesen, dass die Hydrologen das Gewässer aufgegeben hatten. Die Versiegelung der Böden, die menschengemachte Klimaerwärmung und die geologischen Bedingungen in dieser karstreichen Region hatten sein Schicksal besiegelt.

Es war ein bitterer Zufall, dass ausgerechnet am selben Mittwoch die schweizerische Regierung beschloss, zur Verhinderung einer Mangellage und zur «Stärkung der Versorgungssicherheit im kommenden Winter» sogenannte Reservekraftwerke in Betrieb zu nehmen. Man versprach eine Leistung von 300 Megawatt, die zusätzlich ins Netz gespeist werden könnten. Die Wirtschaft reagierte mit Erleichterung auf diese Ankündigung, die der Bevölkerung in einem dürren Communiqué mitgeteilt wurde. Nachfragen waren nicht möglich, niemand aus der Regierung stellte sich, was nicht verwunderlich war. Denn schliesslich mussten für diese Massnahmen die Grenzwerte der Lärmschutz- und der Luftreinhalteverordnung aufgehoben werden, und dies zu erklären, musste an diesem Tag zu einer Peinlichkeit werden.

Reservekraftwerke sollen die Stromlücke füllen, wie etwa das Testkraftwerk in Birr AG. Doch diesen Winter wird daraus noch kein Strom fliessen.
Foto: Thomas Meier

Nein, der Lac des Brenets wurde mit keinem Wort erwähnt. Er war kein politisches Traktandum, kein Menetekel, kein Zeichen an der Wand, kein Bild für die Falle, in die sich unsere Gesellschaft begeben hat. Wer vermisst hierzulande schon einen See? Wer braucht ein unbedeutendes Gewässer in einer unbedeutenden, armen Region am äussersten Rand des Landes, eine Gegend, die weder wirtschaftlich noch kulturell eine Bedeutung hat? Die Pegelstände des Rheins bereiten Sorgen, weil das Niedrigwasser die Schifffahrt verhindert und den Handel verteuert. Das minimale touristische und landwirtschaftliche Gewerbe hingegen, das von diesem See abhängig war, wird man mit vergleichsweise wenig Geld entschädigen können. An den Lac des Brenets, der in Frankreich Lac de Chaillexon heisst, wird sich bald niemand mehr erinnern. Zu seinem Andenken wird es keine Sondermarke der Post geben, keine Glocken werden geläutet zum Abschied, und nur einige alte Leute werden eine Weile noch ihre Anekdoten erzählen, etwa jene vom Abbé Simon, der über viele Jahre von einem siebzehn Meter hohen Sprungturm in den Lac des Brenets sprang, um Geld für seine Kirche und für die Obdachlosen zu sammeln.

Abbé Simon springt am 3. Juli 1983 aus 17 Metern Höhe in den Lac des Brenets.
Foto: ZVG

Politik ist der Versuch, die Wirklichkeit zur Sprache zu bringen und von den Menschen eine Entscheidung zu fordern. Aber es scheint, als habe sich diese Politik von einem Teil dieser Wirklichkeit verabschiedet, und so wirken die Verlautbarungen, die Medienmitteilungen und die Reden immer absurder, lachhafter und manchmal sogar wahnsinnig. Es ist das Phänomen des Elefanten, den alle bemerken und über den niemand spricht, aus Angst, aus Hilflosigkeit. Begriffe zu finden für die Wirklichkeit ist schmerzhaft, man will sich damit nicht auseinandersetzen. Die Verarmung der Sprache ist ein Zeichen für die Verarmung der Politik. Und wie der See, so trocknet auch die Sprache aus, sie verödet, flüchtet sich in Floskeln und Worthülsen.

Das Reden wird unangenehm, und so hält man es kurz. Zwei Tage bevor unser See verschwand, brauchte der Finanzminister keine zwanzig Minuten, um der Öffentlichkeit die anstehende Reform der Verrechnungssteuer zu erklären. Es waren die bekannten Begriffe, mit denen er die Position seiner Regierung darlegte. «Steuersubstrat», «Wettbewerbsfähigkeit», «wirtschaftliche Rahmenbedingungen». Die Pressekonferenz war reine Routine, ein totes Ritual ohne Bezug zur Wirklichkeit, die Sprache des Finanzministers hölzern, plump, angeödet von der Stumpfsinnigkeit und von der eigenen Entfremdung. Ausgestattet mit den Privilegien des Amtes, das jede persönliche Gefährdung ausschliesst, sprach der Bundesrat seinen ewigen, tödlich langweiligen Text. Fragen wurden von den Medienschaffenden nicht gestellt, wenn sie denn überhaupt zu dieser sinnlosen Veranstaltung gekommen waren.

Schweigen und die Flucht in eine sinnentleerte Sprache ist die eine Methode, um die Wirklichkeit nicht ins Bewusstsein zu bringen. Eine andere ist die Infantilisierung, beispielhaft nachzulesen in der Rede der Infrastrukturministerin zum diesjährigen Nationalfeiertag, gehalten in einer kleinen Walliser Berggemeinde, in Saas-Balen.

Der ausgetrocknete See Lac des Brenets im Jura.
Foto: keystone-sda.ch

Als wären die Anwesenden Kinder oder Schwachsinnige, so spricht die Bundesrätin. Sie beschwört die Himbeeren, von denen sie gehört habe, sie seien hier ohne Würmer, spricht von den weltbesten Hauswürsten, von den Matten und von der guten Luft. Idyllen, Vignetten, Abziehbilder, die sich gut machen würden in einem touristischen Faltblatt, und selbst die Kehrseite, die Schlamm- und Eislawinen, die durch das Auftauen des Permafrostes die Siedlungen bedrohen, verwandeln sich in ihrer Rede in eine Postkartenansicht, in eine hübsche Anekdote. Die Bundesrätin ergeht sich in ihrer Rede in einem Märchenton, der die Widersprüche nicht formuliert, und weil der Gedanke hohl bleibt, findet die Sprache nur die alten Legenden, etwa die Mär von den Suonen, den Wasserleitungen, die in jenem Landstrich schon seit den Römerzeiten in den Berg bebaut würden und ein Beispiel seien für den hiesigen Gemeinsinn. Ausgerechnet eine sozialdemokratische Politikerin ergeht sich in einem nationalistischen Phantasma, das immer wieder zur Stilisierung dient und im Film «An heiligen Wassern», gedreht von einem alten Nazi, endgültig den Eingang in die lokale Mythologie gefunden hat.

Die Walliser Weissweinseligkeit wird bei ihr zum Exempel für den sozialen Zusammenhalt in dieser Berggemeinde. Ihre Worte sind losgelöst von der Wirklichkeit und von den Menschen, an die sie sich wendet. Das Bergdorf Saas-Balen mag viele Reize haben, aber es ist nicht bekannt für seine Solidarität und für nachhaltige Politik. Die Initiativen zur Masseneinwanderung und zum Minarettverbot wurden hier mit derselben überwältigenden Mehrheit angenommen, wie das C02-Gesetz abgelehnt wurde. Der Gemeinsinn hört offensichtlich an den Grenzen dieser Gemeinde auf. Die Gemütlichkeit und der Zusammenhalt beschränken sich auf die autochthone Bevölkerung, was man durchaus als schweizerische Eigenart bezeichnen könnte. Die Bundesrätin fand nicht den Mut, diese Widersprüche zur Sprache zu bringen. Sie hätte die offensichtlichen Widersprüche ansprechen können, aber das ist nur möglich, wenn sie die eigenen ebenfalls in den Ring geworfen hätte. Die Folgen davon wären unabsehbar, es wäre die Konfrontation mit der Wirklichkeit, mit dem, was in diesen Tagen in unserer Welt geschieht, und mit der Unfähigkeit der Politik, all dies in eine Sprache zu bringen.

In dieser Wirklichkeit verschwindet nach vierzehntausend Jahren ein See. Niemand weiss, was das für die Gefühle, die Umwelt und unsere Kultur bedeutet, aber alle wissen, was die wesentlichen Ursachen dafür sind. Sie lauten «Steuersubstrat», «Wettbewerbsfähigkeit», «Arbeitsplätze» und «wirtschaftliche Rahmenbedingungen». Dieses Land kompensiert seinen Schmerz und seine Hilflosigkeit nach wie vor mit dem Versuch, die Wirtschaftsleistung zu erhöhen, und man darf davon ausgehen, dass ihm dies gelingen wird. Hier liegt die Kompetenz, und eine ganze Weile werden die alten Begriffe, Geschichten und Bilder noch ihre Wirksamkeit behalten, und alle, die bei dieser Verschwörung des Verschweigens mitmachen, werden wirtschaftlich entschädigt. Totschweigen nennt man dieses Prinzip, es ist eines der Gewalt, denn tatsächlich tötet diese Methode. In der vergangenen Woche ist ihm unter anderem ein See zum Opfer gefallen.

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