Der Mensch der modernen, westlichen Zivilisation hält sich für vernünftig und pragmatisch. Er hat Begriffe erfunden wie «Fortschritt» und «Entwicklung», aber die Taten, die er in ihrem Namen vollbringt, führen in die Zerstörung und in die eigene Irrationalität.
Der Mensch der modernen, westlichen Zivilisation hat keinen Weg aus seinem metaphysischen Dilemma gefunden, und je mehr er nach einem Ausgang sucht, umso tiefer verheddert er sich in den Widersprüchen. Darin liegt seine Tragik. Vor etwas mehr als hundert Jahren hat er sich von einem deutschen Philosophen einreden lassen, dass Gott tot sei, was nicht falsch ist, aber ein grosses Missverständnis beinhaltet. Den alten, christlichen hat er getötet und sich in die Arme eines anderen, eines neuen Gottes geworfen. Die alte, gottgegebene Ordnung hat er in die Kirche verbannt und geglaubt, sein moderner Staat komme ohne allmächtigen Herrscher aus. Auf eine bizarre, groteske Weise ist sich der Mensch der modernen, westlichen Zivilisation nie bewusst geworden, wie tief er in den Abhängigkeiten eines tödlichen Kultes steckt.
Und so beschreiben die alten, religiösen Legenden das Drama des modernen Menschen ziemlich genau. Man braucht den Begriff «Gott» nur durch «Öl» oder «Gas» zu ersetzen.
So entwickelt sich das Drama des deutschen Wirtschaftsministers analog zu jenem des biblischen Jona. Das war jener Mann, der vor der Berufung seines Gottes fliehen wollte, sich auf ein Schiff begab, das in einen Sturm geriet, weshalb die Mannschaft diesen Jona über Bord warf, bevor er sich im Bauch eines Wals wiederfand, wo er begriff, wie sinnlos seine Fluchtversuche gewesen waren und er seinem Gott niemals entkommen würde. Und wie Jona unterwarf sich auch der Politiker der Allmacht seines Gottes und sprach sein Gebet.
Die moderne, bürgerliche Gesellschaft entstand nicht nur in Paris, nicht nur mit dem Sturm auf die Bastille. Sie entstand in Bibi-Heybat am Kaspischen Meer und im Norden Pennsylvanias, in den Hügeln Rumäniens, bei Sarata und Ploiesti, in den Jahren nach 1860. Dort bohrte man zum ersten Mal die Quellen an, aus dem das schwarze Gold floss, das in wenigen Jahrzehnten die totale Herrschaft übernehmen sollte. Das Öl vernichtete die alten Imperien und liess neue entstehen, die Rockefellers und Standard Oil übernahmen im Namen und mit der Hilfe dieses neuen Gottes das Zepter. Ignacy Lukasiewicz erfand im Jahre 1853 das Kerosin, das von da an in den Lampen brannte und eine neue Welt aus dem Dunkel hob. Seither essen wir diesen Gott, dieser Gott heilt uns, er schenkt uns das Leben, er macht unsere Welt bunt mit den Farben, er kleidet uns mit seinen Stoffen, er macht uns satt durch den Dünger, er berauscht uns, wir erbauen ihm Tempel, er bewegt uns als Treibstoff, er gibt uns das Material für die Technologien, mit denen wir schreiben, lesen, denken.
Auch dieser Gott, wie alle anderen vor ihm, hat eine perverse Seite. Er kommt daher als dunkle, stinkende Brühe, ein Gemisch aus verrotteten Organismen. Aus dieser giftigen Suppe, die alles verseucht – Boden, Wasser, Luft –, kochen wir uns das Heil, die Medikamente, den Dünger, das Benzin.
Öl ist das Transzendente, so wie der Philosoph Immanuel Kant es definiert hat: Es überschreitet die Erfahrung nicht nur, es geht der Erfahrung voraus. Das Öl ist jenseits der natürlichen, uns mittels der Sinne erkennbaren Welt, es geht über den Bereich des menschlichen Bewusstseins hinaus, und wir mögen seine Erscheinungsformen erkennen als Rauch, als Gas, als Flüssigkeit, aber von seinem Sein haben wir keine Vorstellung, denn sein Sein erschafft erst unsere Vorstellung, ist sie.
Der moderne Mensch westlichen Zuschnitts hält sich in aller Regel für nüchtern, aber tatsächlich ist sein Bewusstsein getrübt, er ist berauscht von diesem braunen, grünlich fluoreszierenden Stoff, von diesen azyklischen und aromatischen Kohlenwasserstoffen aus dem Inneren der Erde.
Das Öl ist in allem, es hat unsere Zivilisation geschaffen, und es scheint, als würde es sie auch wieder zerstören. Durch das Öl wurden neue Beziehungen geschaffen, neue Reichtümer, neue Verkehrswege, neue Kriege, neue Städte, neue Gedanken, neue Ideologien. Das Öl hat eine Geschichte entwickelt, deren Struktur wir nicht darstellen können. Wir müssten dazu eine Position einnehmen, die jenseits des Öls ist, wir müssten das Öl, seine Funktion, seine Wirkung, beobachten können. Aber das gelingt nicht, weil alles, auf dem wir stehen, unsere Beobachtung selbst, seine Bedingung im Öl hat, ölgeboren ist, angefangen bei den Werkzeugen, mit denen ich diese Zeilen schreibe, nein, angefangen mit dem Denken, mit der Idee. Wie wäre das moderne Wissen möglich ohne das Öl, wie hätten wir die Volksschule einführen können, wie hätten wir die Massengesellschaft, die Konsumgesellschaft, die Warengesellschaft, die Industriegesellschaft überhaupt bauen können, wenn man nicht hinter die fantastischen Möglichkeiten des Steinöls gekommen wäre? Dieses Problem der Undarstellbarkeit, der Unverfügbarkeit des Öls ist den Menschen früh zu Bewusstsein gekommen. So schreibt Bertolt Brecht in den frühen Zwanzigerjahren: «Das Petrol sträubt sich gegen die fünf Akte, die Katastrophen von heute verlaufen nicht geradlinig, sondern in der Form von Krisenzyklen, die Helden wechseln mit den einzelnen Phasen (…).»
Und wie alle Götter, die wir uns bis heute erfunden haben, kennt auch dieser Gott die Freude an der Grausamkeit, an der Zerstörung, am Opfer. Wir führen Kriege in seinem Namen. Die Ölfelder sind die Schlachtfelder der Moderne. Sein Erscheinen erschafft die Sieger, sein Versiegen bedeutet Niederlage. Generalfeldmarschall Rommel soll an seine Frau geschrieben haben: «Die Schlacht ist verloren, wir haben kein Benzin mehr.» Die deutschen Panzer blieben in den Ardennen stehen, ihr Gott hatte sie verlassen.
Und auch dieser Gott scheint sich an den perfiden Pointen zu erfreuen. So ist eine vegane Lebensweise nur für jenen möglich, der dem Öl abschwört. Denn entgegen der allgemeinen Legende sind es nicht nur pflanzliche Abbauprodukte, es sind die Überreste tierischer Organismen, denn die Häminderivate, die man als Bestandteil des Öls kennt, sind nichts anderes als das Blut der verrotteten Tiere. Den Ort aber, wenn es ihn denn gäbe, wo das Öl nicht regiert, könnten wir nur erreichen, wenn das Öl uns hinbringen würde.
In Zeiten des Krieges mag sich ein Mensch fragen, ob wir auf ewig gefangen sind in dieser Spirale aus Hass und Gewalt, und vielleicht mag er sich an jene wenden, die der Gewalt ganz abgeschworen haben.
Erst die geschundene, sich selbst vernichtende Menschheit schreit nach Frieden. Entkommen wir den Zyklen aus Hass und Rache? Ist es überhaupt möglich? Haben wir einfach die Stellschraube, die wir drehen müssten, um uns zu befreien aus den zerstörerischen Zusammenhängen, noch nicht gefunden? Oder fehlt der Mut, die Schritte, die den Ausweg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zeigen würden, auch tatsächlich zu gehen?
Auf eine hässliche, fast perverse Weise scheint der Pazifismus immer zu spät zu kommen, immer dann, wenn der Frieden bereits bedroht ist, wenn bereits die Bomben fallen und die Todesmaschinen wieder rollen. Es scheint den Gefechtslärm, den Tod und die Zerstörung zu brauchen, um die Sehnsucht nach Frieden zu entfachen. Ähnlich einem Menschen, der sich seiner Gesundheit erst bewusst wird, wenn ihn eine Krankheit niederzwingt, erst dann mag er sich verfluchen für den Raubbau, für den ungesunden Lebensstil, für die Völlerei, die Gedankenlosigkeit. Und er schwört sich Mässigung, vielleicht sogar Askese – aber die wird nicht gelingen, wenn er seine Irrationalität nicht erneut in eine Form bringen kann. Die Gewaltlosigkeit ist eine Kategorie des Transzendenten, sie kann darauf nicht verzichten. Gerade wenn sie Politik wird, wie im Falle Mahatma Gandhis, ist es die rigide Befolgung der religiösen Gelübde, die erst ihre Kraft, ihre Macht und ihren Erfolg ermöglicht.
Auch dieser Vorhang wird eines Tages zerreissen, auch dieser Gott, wie alle anderen vor ihm, wird gestürzt, seine Altäre zerstört und seine Bücher verbrannt werden.
Unsere Zivilisation ist entstanden durch diesen Stoff, und sie wird verschwinden durch diesen Stoff. Er ist der Bezugspunkt aller Aporien, Widersprüche, um ihn dreht sich der Teufelskreis der modernen Gesellschaft.
Wie können wir uns von ihm lösen? Mit den Römern sind auch ihre Götter verschwunden, sie wurden ersetzt, Konstantin ersetzte Zeus durch Jesus und schaffte damit die Zivilisation ab, die zu diesem Gott gehörte.
Bis vor einigen Jahren gab es die Hoffnung, dieser Gott würde sich selbst erschöpfen, die Quellen würden versiegen, der Peak Oil, der Punkt der höchsten Fördermenge, werde bald erreicht und dann würde die Macht des Öls schwinden. Das wird passieren, eines Tages, keine Frage, die Vorräte sind endlich, aber diese Zivilisation wird diesen Moment nicht erleben, sie wird auf dem Weg der Befreiung von diesem Gott verbrannt werden.
Und auch diese Befreiungsversuche reihen sich mit ihren Methoden ein in die bekannten Exerzitien. Gandhis Askese, die Visionen einer Teresa von Avila, die Weltflucht Buddhas – es war der Gang von einem religiösen Kult in den nächsten. Den Weg aus der metaphysischen Dimension müssen wir noch finden. Dieser Gott ist sehr lebendig, das Mittel, ihn zu vernichten und seinen Kult zu zerstören, dieses Mittel müssen wir finden, dringend, jetzt, es ist Zeit.