Am vergangenen Dienstag, es war ein lauer, freundlicher Maitag, musste der Nationalrat über die Frage entscheiden, ob das Wort «besonders» aus dem Artikel 266, Absatz a der Zivilprozessordnung zu streichen sei oder nicht. Dieser Artikel regelt die vorsorglichen Massnahmen, die ein Gericht anordnen kann, wenn jemand gegen einen Medienbericht vorgehen will, weil dieser jemand glaubt, seine Rechte würden durch die Veröffentlichung verletzt. Musste diese Rechtsverletzung nun bloss einen schweren oder eben einen «besonders» schweren Nachteil verursachen, damit die Massnahme rechtens wäre?
Ein Wort ist schnell gestrichen, und wenn es ein hässliches Adverb ist, dann geschieht es noch viel leichter, und kurz vor 13 Uhr war das «besonders» mit einer Mehrheit von 99 zu 81 Stimmen aus dem Gesetz verschwunden.
Im Zentrum einer Berichterstattung zu stehen, kann unangenehm bis tödlich sein. Die Öffentlichkeit ist keine harmlose Sache. Sie beratet, klagt an und verurteilt. Hier werden Karrieren gemacht und vernichtet. Nicht immer sind die Urteile gerecht. Die Öffentlichkeit kann sich irren, auch Journalistinnen und Journalisten sind fehlbar, auch Verlegerinnen und Verleger haben Eigeninteressen.
Aber eine demokratische Öffentlichkeit braucht eine freie Presse. Sie ist nicht die Summe des Eigennutzes, sie ist eine Sache des Gemeinwohls. Mit dem Entscheid vom vergangenen Dienstag bezeugen 99 Abgeordnete, wie sehr sie die Bedeutung dieses zentralen Begriffs vergessen haben. Warum wohl? Warum fürchten sie die Pressefreiheit? Warum glauben sie nicht an die Öffentlichkeit, der sie doch überhaupt erst ihr Mandat verdanken? Warum kämpfen sie nicht für mehr Demokratie?
Sie glauben, gute Argumente auf ihrer Seite zu wissen. So schildert etwa die grünliberale Nationalrätin des Kantons Zürich während der Debatte in anschaulichen Worten die Folgen, die sogenannte Sensationsgeschichten für die Betroffenen haben könnten. Es gebe kein Recht, damit Existenzen zu zerstören. Das geneigte Publikum sieht die Szene vor Augen: Skandalgeile Medien fahren Kampagnen gegen unschuldige Menschen, die sich gegen die Angriffe nicht wehren können.
Aber genau diesen Sensationsgeschichten verdanken wir, dass Verbrecher in der Wirtschaft, der Politik und in Behörden ertappt und zur Verantwortung gezogen werden. Das Bezirksgericht Zürich verurteilte in diesem Frühjahr einen betrügerischen Banker. Grundlage dafür waren Medienrecherchen. Wäre es der Nationalrätin lieber, wenn diese kriminellen Existenzen nicht zerstört würden?
Die freie Presse ist der Wachhund, nicht die Schmusekatze der Demokratie. Die freie Presse braucht Zähne, damit sie beissen kann.
Und wenn die grünliberale Politikerin in der Debatte zugibt, unseriöse Journalistinnen und Journalisten würden nur einen Bruchteil ausmachen: Warum will sie dann die Freiheit aller, auch der seriösen Mehrheit, einschränken?
Wie sehr es der Demokratie schadet, wenn der Eigennutz über das Gemeinwohl gestellt wird, selbst dann, wenn dieser Eigennutz berechtigt ist, sieht man am Beispiel der grünen Vertreterin des Kantons Basel–Stadt. Sie wurde im vergangenen Jahr Opfer eines sexistischen, rassistischen Verbrechens. Die Basler Presse meinte, Bilder dieses Verbrechens veröffentlichen zu müssen – ein Exzess der Pressefreiheit, der für die Betroffene einen Nachteil verursachte, und zwar einen «besonders» schweren. Wohl aufgrund dieser Erfahrung enthielt sich die Nationalrätin bei der namentlichen Abstimmung und unterstützte schweigend die Streichung von «besonders». Sie hätte sich ein bisschen weniger Pressefreiheit gewünscht. Das mag man verstehen, besonders wenn man sich an die Situation am Rheinknie erinnert, an die rechtsnationale Subversion der «Basler Zeitung» vor einigen Jahren, an die Wut und die Empörung, die Demonstrationen, Petitionen, mit denen sich die kritische Öffentlichkeit gegen die Instrumentalisierung der Medien zu wehren versuchte. Basel ist ein medienpolitischer Kampfplatz, man versteht, wenn persönliche Aversionen herrschen.
Aber was, wenn die Nationalrätin trotz ihrer Erfahrung an das Gemeinwohl gedacht hätte? Sie hätte erkennen müssen, dass ihr Fall eine Ausnahme war, eine böse, schlimme Ausnahme, dass die Regel in diesem Land hingegen eine andere ist, nämlich die Einschränkung der Pressefreiheit.
Die Schweiz ist im vergangenen Jahr im Ranking von Reporter ohne Grenzen vom zehnten auf den vierzehnten Platz abgerutscht. Und laut der Uno-Berichterstatterin für Pressefreiheit verstösst unser Bankengesetz gegen den Uno-Zivilpakt und sogar gegen die Menschenrechtskonvention, indem es journalistische Recherche kriminalisiert. Das erschreckende Beispiel datiert vom vergangenen 22. Februar: Die Enthüllungen «Swiss Secrets», die kriminelle Praktiken der Schweizer Banken ans Licht brachten, konnten in der Schweiz nicht erscheinen. Wer diese Papiere veröffentlicht, macht sich in der Schweiz strafbar.
Viele Füchse sind des Hasen Tod – so die weise Redensart. Es sind die Einzelinteressen, die der Pressefreiheit in diesem Land zusetzen. Obwohl viele Medienschaffende hervorragende und für die Demokratie unverzichtbare Arbeit leisten – viele Freunde scheinen sie nicht mehr zu haben. Im Februar wurde das Medienpaket des Bundesrates an der Urne abgelehnt, eine neue Vorlage ist nicht in Sicht, der Abfluss der Werbegelder in Richtung der Tech-Firmen geht unvermindert weiter – und ganz alleine steht mittlerweile die SRG da. Zwar werden ihr nicht die Worte, sondern die Gelder gestrichen. Die Hungerkur hat längst die vitalen Funktionen angegriffen. Die Schäden sind besonders schwer und wohl irreparabel. Und da ist niemand, der ihr in diesem Augenblick zu Hilfe kommen würde – nicht einmal innerhalb der Organisation erhebt sich noch Widerstand gegen den langsamen Tod der wichtigsten Medienanstalt des Landes. Am Leutschenbach streicht man sich die Worte sogar selbst. Währenddessen lauern die Eigeninteressen und die Messer werden gewetzt. Wer wird es bei der nächsten Kürzungsvorlage noch wagen, für die öffentlich-rechtlichen Medien und damit für das Gemeinwohl einzustehen?
Während an jenem schönen Maitag das Parlament in Bern das Gemeinwohl vergass, verteidigten die Menschen in der Ukraine es mit ihrem Leben. Sie stellten es über den Eigennutz, sogar über die eigene physische Existenz. Sie sterben lieber, als so zu leben, wie der russische Diktator es vorgesehen hat.
Die Freiheit der Presse ist eine unteilbare Sache der Res Publica, des Gemeinwohls, eine unreduzierbare Notwendigkeit der Demokratie. Wer das nicht begriffen hat, der möge in diesen Tagen nach Russland schauen.