Lukas Bärfuss über die Skandale des Internet-Giganten
Nicht nur Facebook sät Wut und Zwietracht

Facebook lebt vom selben Stoff, von dem Film, Zeitungen und Literatur seit jeher zehren: Konflikt. Was es laut Lukas Bärfuss nun endlich braucht, sind Gesetze.
Publiziert: 09.10.2021 um 16:54 Uhr
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Aktualisiert: 09.10.2021 um 18:07 Uhr
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Frances Haugen ist IT-Spezialistin – und Whistleblowerin.
Foto: imago images/ZUMA Wire
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Lukas BärfussSchriftsteller

Das Verwaltungsgebäude Russell Senate Office Building in Washington trägt seinen Namen zu Ehren eines rassistischen Senators und müsste hierzulande kaum interessieren. Doch am vergangenen Dienstag fand dort, in Sichtweite des Kapitols, eine Anhörung statt, die für die Milliarden von Menschen in naher Zukunft erhebliche Folgen haben dürfte.

Die Kommission für Konsumentenschutz des US-Senats hatte als Zeugin Frances Haugen geladen. Die IT-Spezialistin war wenige Tage zuvor mit Enthüllungen über die geheimen Geschäftspraktiken ihres ehemaligen Arbeitgebers Facebook an die Öffentlichkeit getreten. Was Haugen zu sagen hatte, schlug weltweit Wellen, und auch in diesem getäfelten Sitzungsraum mit dem blauen Spannteppich war der Ton von Beginn an gesetzt. Der Vorsitzende Richard Blumenthal, Senator aus Connecticut, meinte, die bereits publizierten Dokumente würden zeigen, dass dieses Unternehmen den eigenen Profit über das Wohl der Kinder und Jugendlichen stellen würde und auf welchen Prinzipien das Geschäftsmodell beruhe, auf Wut und Zwietracht nämlich. Alleine sie, Frances Haugen, habe sich gegen einen der mächtigsten Riesen in der Geschichte der Menschheit gestellt.

Nichts, was wir durch die Whistleblowerin lernten, ist wirklich neu

In diesem Märchenton ging es weiter, aber alleine die zelebrierte und parteiübergreifende Harmonie zwischen Demokraten und Republikaner musste den interessierten Beobachter stutzig machen. Entrüstung überall, auch in europäischen Kommentaren. Und viele von ihnen, gerade in der Politik, verfolgen mit dieser Taktik nur ein Ziel: Sie wollen vom eigenen Versagen ablenken. Denn was Facebook betreibt, ist bekannt. Längst bekannt. Seit dreitausend Jahren kennt man die Methode. Um sie zu verstehen, braucht man keine Whistleblowerin. Es reicht, wenn man eine beliebige Zeitung liest, ins Kino geht oder einen Roman aufschlägt.

Schon das erste Epos der europäischen Literatur, die Ilias, beginnt mit dem Wort «Zorn». Und wie alle nachfolgenden erzählenden Werke schildert Homer, wofür Facebook jetzt am Pranger steht: Wut und Zwietracht. Und nach dieser Methode geht es in den Jahrhunderten danach weiter, durch alle Epochen und Genres, durch Romane, durch den Film, bis hin zu den modernen Fernsehserien. Und das gilt nicht nur für die Fiktion. Jede Zeitung publiziert in erster Linie Artikel zum entsprechenden Thema. Und je besser, je anschaulicher sie es tut, umso grösser ist die Aufmerksamkeit des Publikums.

Wut und Zwietracht überall und seit immer – beweist dies die perverse Natur des Menschen? Vielleicht. Aber zu unserer Entlastung darf man anfügen: Wir können gar nicht anders. Unser Interesse für die beiden Begriffe sichert unser persönliches und evolutionäres Überleben.

Bedrohung oder Chance?

Wut und Zwietracht sind Ausdruck einer ungeklärten Situation. Sie stellt uns zuerst eine Frage: Ist das, was hier gerade geschieht, eine Bedrohung oder eine Chance? Solange wir keine Antwort gefunden haben, wird diese ungeklärte Situation unsere volle Aufmerksamkeit geniessen. Und Aufmerksamkeit ist das knappste und kostbarste Gut des Universums.

Verlorene Aufmerksamkeit ist für Facebook synonym mit Ruin. Und deshalb finden dort die Konflikte niemals ein Ende. Der Algorithmus wird jede Position immer weiter radikalisieren. Wer sich auf Facebook für Politik interessiert, landet früher oder später bei Verschwörungstheorien. Jeder Jugendliche, der sich über gesunde Ernährung informiert, findet sich irgendwann bei Bulimie und Anorexie wieder. Niemand wird aus dem Konflikt entlassen, die Spannung muss aufrechterhalten werden, es gibt keine Erlösung, kein Ende, nur die wachsende Sucht nach grösserer Wut und wachsender Zwietracht.

Die Methode ist alt, die moderne Technologie gibt ihr jedoch eine neue Dimension. Bisher fand jede Form, jedes Genre eine natürliche Grenze. Der Roman hat einen Schluss, im Kino gehen die Lichter an, nur dem Internet ist Endlosigkeit eingeschrieben, und zwar von Gesetzes wegen.

Die Internet-Plattformen können nicht zur Verantwortung gezogen werden

In den Urzeiten des Internets, im Jahre 1996, unter der Präsidentschaft Bill Clintons, erliess der US-Kongress den Communication Decency Act. Die Section 230 dieses Gesetzes, erst kurz vor der Abstimmung nach Protesten aus der Tech Community eingefügt, umfasst 26 Worte. Sie definieren das Internet bis zum heutigen Tag. «Kein Anbieter oder Nutzer eines interaktiven Computerdienstes», so steht da, «darf als Herausgeber oder Sprecher von Informationen behandelt werden, die von einem anderen Anbieter von Informationsinhalten bereitgestellt werden.»

Mit diesem Satz sind die Betreiber von Plattformen von der Verantwortung für die Inhalte, die sie verbreiten, seither entbunden. Sie gelten nicht als Produzenten, sondern als Vertriebskanäle für die von den Nutzern produzierten Inhalte.

Ohne die Section 230 gäbe es weder Facebook noch Youtube oder Instagram. Wer die Techkonzerne reformieren will, muss demnach die Section 230 reformieren. Aber das wird niemand wagen. Niemand will sich vorwerfen lassen, das Recht auf freie Meinungsäusserung anzugreifen. Was verständlich und doch absurd ist. Jedes Kind erkennt auf der Stelle den Unterschied zwischen einer gedruckten Zeitung und Facebook. Die Möglichkeit, mit einem einzigen Post ein globales Publikum zu erreichen, ist keine quantitative, sondern eine qualitative Differenz. Ein Pfeilbogen ist etwas anderes als eine Atombombe. Die Weltöffentlichkeit funktioniert fundamental anders als ein lokales Publikum. Und die Gesetze, die das eine ordentlich regeln, sind für das andere vollkommen untauglich. Selbst die Begriffe entsprechen sich nicht. Meinungsäusserungsfreiheit hat im Zeitalter von globalen Kommunikationstechnologien eine neue Bedeutung und muss eine neue Definition finden. Der Politik ist dies bis heute nicht gelungen.

Amerikanische Gesetze für die Welt

Für Nutzer des Internets, die keine amerikanischen Staatsbürger sind, stellt sich ein weiteres Problem. Obwohl ursächlich von dieser Technologie betroffen, haben sie zu den Rahmenbedingungen nichts zu sagen. Facebook funktioniert im 21. Jahrhundert global, die Gesetzgebung bleibt wie bis anhin lokal.

Nicht-Amerikaner können der Entwicklung in den USA nur zusehen, aber das entbindet niemanden von der Verantwortung für die eigene nationale Öffentlichkeit. Die gibt es nämlich nach wie vor. Leider hat sich die schweizerische Politik vor dieser Verantwortung die längste Zeit gedrückt und die Hände in den Schoss gelegt.

Mit dem Erfolg von Facebook verloren die Medien ihre wesentliche Einnahmequelle, die Werbung, in die USA. Den hiesigen Medien bleiben die Brosamen. Und der Abfluss der finanziellen Mittel geht ungebremst weiter. Das Massnahmenpaket, im Juni vom schweizerischen Parlament zur Unterstützung der Medien erlassen, ist ein mickriger Verband für eine klaffende Wunde. Und während sich die Gegner aller staatlichen Ordnung bereits organisiert und gegen das Medienpflästerli das Referendum ergriffen haben, sitzen die vermeintlichen Unterstützer in ihren Büschen und wagen keinen Pieps. In Sonntagsreden feiern sie die herausragende Rolle der Medien in einer funktionierenden Demokratie. Die notwendigen Konsequenzen allerdings scheuen sie. Allgemeine Ideale
sind leicht beschworen, das konkrete Interesse an kritischen, freien Redaktionen bleibt begrenzt. Eine unabhängige Berichterstattung wird gerne gesehen, solange sie nicht das eigene Verhalten zum Inhalt hat.

Medien müssen sich hausgemachten Problemen widmen

Die Medien haben nicht viele Freunde, aber trotzdem wenig Grund, über die Umstände zu klagen. Sie sollten sich zuerst um die hausgemachten Probleme kümmern. Ein Verleger argumentiert zynisch, wenn er von seiner Zeitung Rentabilität fordert und ihr gleichzeitig die Inserate in die konzerneigenen Marktportale verschiebt. News alleine waren niemals profitabel. Abos haben nie gereicht, um die Kosten zu decken. Finanzielle Gewinne wirft vor allem die Werbung ab. Die Inserate bezahlten seit jeher die Gehälter der Journalistinnen.

Demokratien sind langsam, vielleicht zu langsam für manche technologische Entwicklung. Die letzte Revision der Altersvorsorge stammt aus dem Jahr 1997, Facebook wurde erst neun Jahre später gegründet. Moderne Technologien brauchen moderne Gesetze, und es ist höchste Zeit, die Sache nun endlich anzugehen.

Vielleicht hat das Hearing in Washington dazu das Signal gegeben. Der Vorsitzende beschrieb die Anhörung als «Tobacco-Moment» für die Techindustrie. Frances Haugen wäre für Facebook dann das, was Jeffrey Wigand für die Zigarettenfirma Brown & Williamson war. Der Whistleblower Wigand deckte auf, dass die Tabakmultis entgegen ihren jahrelangen Dementis sehr wohl wussten, wie Nikotin abhängig macht und wie sicher Rauchen Krebs verursacht. Nach Jeffrey Wigand war die Welt eine andere, eben jene, in der wir heute leben.

Die sozialen Medien haben letzten Dienstag wohl den letzten Rest ihrer Unschuld verloren. Die wesentlichen Fragen, wie wir mit dieser mächtigen Technologie zum Wohle aller umgehen, bleiben indes unbeantwortet.

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