Die Leser vertrauen ihrer Zeitung nicht mehr, die Bürgerinnen haben das Vertrauen in den Staat verloren, die Patienten vertrauen der Medizin so wenig wie die Gläubigen ihren Kirchen, die Schülerinnen vertrauen den Schulen nicht mehr, die Jungen vertrauen den Alten so wenig wie die Alten den Jungen – kurzum, so schallt es von allen Seiten, so scheint es allen klar zu sein: Wir leben in einer Zeit des totalen Vertrauensverlusts. Alle sehnen sich danach, und niemand weiss, wie man es wieder herstellen kann.
Vertrauen? Was das ist, weiss jeder genau so lange, bis er es erklären muss. In welche Kategorie gehört dieser Begriff? Ist es ein Gefühl? Eine Haltung? Ein Modus des Denkens?
Wenn es ein Modus des Denkens wäre, dann könnte der Wille das Vertrauen lenken. Das ist leider nicht der Fall. «Ich wünschte, ich könnte dir vertrauen», so sagt man und bringt damit zum Ausdruck, wie wenig der Wille hier einen Einfluss hat.
Falls Vertrauen eine Haltung wäre, dann würde hier dasselbe gelten. Doch es lässt sich nicht erzwingen, egal, in welcher Haltung wir dies versuchen.
Vertrauen ist kein Gefühl, es ist seine Abwesenheit. Wer vertraut, verspürt keinen Zweifel, keine Unruhe, es quälen ihn keine Fragen.
Schlechte Erfahrungen zerstören Vertrauen
Vertrauen ist verwandt mit dem Glauben und der Hoffnung. Alle drei Begriffe definieren sich negativ, nicht positiv: Wir glauben, was wir nicht sicher wissen; wir hoffen, worauf wir uns nicht verlassen; wir vertrauen, wo wir nicht kontrollieren.
Wer vertraut, hat keine Möglichkeit, über den Ausgang einer Sache zu bestimmen, er vertraut darauf, dass sie sich zu seinen Gunsten wenden wird. Vertrauen verweist auf die Zukunft und auf die Erfahrung, die der Vertrauende irgendwann machen wird. Schlechte Erfahrungen, das weiss jeder, zerstören das Vertrauen, gute hingegen bauen es auf und stärken es.
Wer vertraut, kontrolliert nicht, entweder weil er es nicht will oder nicht kann.
Wer daran denkt, die Post seiner Liebsten zu kontrollieren, vertraut ihr offensichtlich nicht, und es spielt eine untergeordnete Rolle, ob dieser Gedanke in die Tat umgesetzt wird oder nicht.
Wer in einer Liebesbeziehung kontrolliert, baut nicht auf das Vertrauen, er baut auf die Macht. In Beziehungen, die auf Gleichberechtigung beruhen sollen, ist dies unvernünftig und zerstörerisch.
Demokratie braucht kein Vertrauen, sie braucht Kontrolle
Öffentliche Beziehungen allerdings beruhen auf einer anderen Grundlage. Ein Staat baut nicht auf Liebe und Gleichberechtigung, sondern auf die Macht und ihrer Kontrolle. Er regelt die Verfahren, um die unterschiedlichen und sich widersprechenden Interessen zu definieren und durchzusetzen. Der Staat bestimmt, wer sich unterordnen muss, er definiert, wer kontrolliert, und er bemisst die Strafe, wenn sich jemand den erlassenen Gesetzen nicht unterordnet.
In einem demokratischen Staat liegt die Macht bei der Mehrheit, und die Richtschnur, an der er sich messen lassen muss, ist das Gemeinwohl. Es beschreibt das gemeinsame Interesse einer möglichst grossen Anzahl von Staatsbürgerinnen und von Staatsbürgern. Wenn diese Demokratie ein Rechtsstaat ist, dann geht er davon aus, dass der Mensch korrumpierbar und schwach ist und der Einzelne von der Tyrannei geschützt werden muss. Ein Rechtsstaat garantiert die Grundrechte, die keine Mehrheit aufheben kann, und er beschränkt die Macht zeitlich, kontrolliert sie aber unbeschränkt. Die demokratischen Institutionen, die Legislative, die Exekutive und die Judikative, überwachen sich gegenseitig. Gesetze werden erlassen, um Verstösse gegen den Willen der Mehrheit zu sanktionieren, und der Einzelne hat ein Interesse an Bestrafung, selbst dann, wenn er daraus keinen unmittelbaren Vorteil zieht. Ein demokratischer Staat braucht kein Vertrauen. Er braucht Macht und Kontrolle, und offensichtlich verliert er genau dies immer mehr.
Die Staatsbürgerinnen haben erfahren, dass sich die Mehrheit immer seltener gegen die Minderheit durchsetzt. In einer Demokratie besitzt jeder Mensch genau eine Stimme. Einkommen und Vermögen, Geschlecht und Herkunft dürften keine Rolle spielen. Doch das Primat der Politik unterliegt viel zu häufig dem Einfluss der Wirtschaft. Das Gefühl der Mehrheit? Ohnmacht.
Wir werden immer ohnmächtiger
Ein Rechtsstaat wendet sich gegen die Willkür und gründet auf der positivistischen Wissenschaft, auf Beweisen und auf überprüfbaren Fakten. Diese Wissenschaft feiert Erfolge, die noch vor wenigen Jahrzehnten als unerreichbar galten. So hat sie in kurzer Zeit einen Impfstoff entwickelt, der zuverlässig vor einer tödlichen Krankheit schützt. Immer mehr Menschen profitieren davon, aber immer weniger verstehen, wie dieser Stoff im Körper funktioniert. Je schneller sich Medizin und Technologie entwickeln, umso intransparenter werden sie für die Laien. Der Patient hat kaum eine Möglichkeit, die Risiken einer Behandlung abzuschätzen. Er muss den Ärzten vertrauen. Das Gefühl dabei? Ohnmacht.
Dasselbe gilt für die Informationstechnologie. Wer nicht versteht, wie sein Smartphone funktioniert, ist den Techfirmen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Ihm bleibt nichts als Vertrauen, auch wenn er weiss, wie wenig es gerechtfertigt ist.
Informationen kann man nach Fakten und blosser Behauptung unterscheiden, allerdings nur, wenn man über die entsprechenden Fakten und Methoden verfügt und sie auch anzuwenden weiss.
Wer versteht, wie Erzählungen strukturiert sind, mit welchen Methoden Propaganda und Desinformation arbeiten, der muss seiner Timeline, den Tweets und den Postings nicht vertrauen, er kann sie kontrollieren.
Und der Patient, der etwas von Chemie, Physik, von Statistik und von Biologie versteht, hat die Möglichkeit, die Risiken einer Behandlung abzuschätzen.
Allerdings hat die Bildung mit der technologischen und wissenschaftlichen Entwicklung nicht Schritt gehalten. Die Werkzeuge, die wir täglich benutzen, die unseren Alltag erleichtern, die uns produktiv machen, die unsere Gesundheit und den Wohlstand garantieren, das Leben verlängern, erscheinen für sehr viele wie reine Zauberei. Daraus resultiert eben das Gefühl der Ohnmacht, der Hilflosigkeit und der Verzweiflung. Das letzte Mittel, um dies alles zu kompensieren, bleibt die Flucht in das Vertrauen. Es ist, wie man weiss, blind, und es taugt nicht, um die Zweifel auszuräumen. Der Zweifel gärt weiter und wird zur Wut.
Vertrauen bricht schnell zusammen
Es ist die Ohnmacht, die Staatsbürgerinnen empfinden, die Einsicht, wie wenig Vertrauen die verlorene Kontrolle über das Leben ersetzen kann. Vertrauen ist eine fragile Entlastungskonstruktion, sie bricht unter dem Gewicht der neuen Machtverhältnisse zusammen. Die demokratische Öffentlichkeit sollte sich die Frage stellen, wie die Mehrheit und das Gemeinwohl die Macht übernehmen können. Man kann es auch positiv formulieren: Die Klage über den Vertrauensverlust beweist den vorhandenen Willen, aber leider gleichzeitig die mangelnden Möglichkeiten zur Selbstermächtigung und zur Kontrolle über das eigene Leben. Nein, die Bürger eines demokratischen Rechtsstaats sollten auf das Vertrauen pfeifen, sie können es getrost den Machtlosen überlassen, also den Gläubigen und den Liebenden.