Lukas Bärfuss
Die Lösung für die Bührle-Sammlung? Sex!

Beim Erben ist es so: Verluste trägt die Allgemeinheit, Gewinn machen Einzelne. Das zeigt sich auch im Fall Bührle und bei der Klimakrise. Das sollten wir ändern.
Publiziert: 05.12.2021 um 15:14 Uhr
Lukas Bärfuss schreibt über das Erben
Foto: Philippe Rossier
Lukas Bärfuss

Auch in diesem Jahr erwartet uns eine schwierige und traurige Weihnachtszeit. Viele Menschen erkranken, viele schwer, viele sterben. Die Spitäler sind voll, und das Schlimmste steht uns noch bevor. Die Pflegenden und die Ärzteschaft leisten Übermenschliches, Tag für Tag, seit bald zwei Jahren. Trotzdem sind sie in vielen Fällen hilflos. Covid-19 ist heimtückisch. Wenn das Virus im Körper eskaliert, versagen oft die besten Methoden der Wissenschaft.

Wer wie stark an Corona erkrankt, ist zuerst eine Frage der genetischen Lotterie. Das Immunsystem wird durch die Umwelt beeinflusst, prägend ist das Erbgut. Wir übernehmen es von unseren Vorfahren, im Guten wie im Schlechten, ob wir es wollen oder nicht, ob es passt oder nicht, früher stehen alle vor der Frage, die das Erbe stellt.

Toxisches Erbe

Unser Vater starb plötzlich, von einem Moment auf den anderen. Nach seinem Tod erfasste der Siegelungsbeamte die Aktiven und die Passiven des Erblassers und stellte schliesslich eine Überschuldung fest. Die Erbschaft wurde ausgeschlagen, die Familie war aus dem Schneider, nur die Gläubiger meines Vaters blieben auf ihren Forderungen sitzen. Das war stossend, und es war nicht der ganze Ärger. Zu den Schulden hinterliess mein guter Vater eine ordentliche Menge Abfall. Die Kehrrichtverbrennung übernahm das Zeug gegen eine Gebühr. Aus der Welt war diese Hinterlassenschaft damit natürlich nicht.

Viertausend Generationen

Meinen Vater trifft kein besonderes Versagen. Jeder hinterlässt Müll. Zum Beispiel Co2. Das Kohlendioxid verschwindet nicht mit unserem Tod, so wenig wie die anderen Gifte. Unsere radioaktiven Abfälle werden viertausend Generationen beschäftigen, 100’000 Jahre lang.

Ein toxisches Erbe, auf dem nun Zürich sitzt: die Bührle-Sammlung im Kunsthaus Zürich.
Foto: Keystone / Christian Beutler

Abfall macht selten Freude, aber hässlich wird er, wenn er mit dem Vermögen zusammenfällt. Gebäude, die mit Asbest isoliert wurden, sind wertvoll und gleichzeitig tödlich giftig. Genau gleich wie gewisse Kunstsammlungen. In Zürich vergiftet eine einschlägige Erbschaft die Stadt, verseucht Institutionen und Beziehungen. Schöne, kostbare Gemälde machen die schlimmsten Verbrechen lebendig, Vertreibung, Raub und Genozid. Emil Bührle, ein Krimineller, raffte sein Vermögen aus Leid und Tod zusammen. Ein Schatz, der sich aus dem Verbrechen nährt, eine teuflische Mischung: Wer damit in Berührung kommt, ist auf immer krank und vergiftet.

Fehlende Erinnerungskultur

Die politischen Verantwortlichen haben dies nicht verstanden. Und falls sie es verstanden haben, so handeln sie nicht danach, und das wäre schlimmer. Sie diskutieren über Leihverträge, Dokumentationsräume, Gutachten und Expertisen. Sie hoffen, ein Erbproblem mit einem Verwaltungsakt zu lösen. Den Schaden dieser sträflichen Ignoranz, dieses politischen Versagens trägt die Allgemeinheit, tragen ihre Institutionen. Zuallererst das Kunsthaus. In Zürich könnte man glauben, das Museum gehöre einer Versicherung, einer Stiftung, den Direktoren. Es wäre schön, wenn die Zürcherinnen und Zürcher sich daran erinnern würden, dass dieses Haus ihnen allen gehört. Weniger über Geld und Prestige und viel mehr über Erinnerungskultur und den emphatischen Umgang mit dem eigenen Erbe sollte man der Limmat reden.

Das Heiligtum der bürgerlichen Kultur

Aber das geht nur, wenn wir gleichzeitig über das Allerheiligste nachdenken. Oh Privateigentum! Oh Sacerdotium der bürgerlichen Welt! Dir gehört unsere Verehrung und unser Vertrauen! Unangetastet stehst du in den Stürmen der Gegenwart! Wer dich in Frage stellt oder sogar leugnet, den heissen wir Kryptokommunist, Teufel, Anarchist!

Das Privateigentum ist heilig, also unerklärlich und unerklärbar. Was kann ein Mensch sein Eigen nennen? Was er auf sich trägt? Wofür er eine Urkunde besitzt? Worüber er verfügen, was er verkaufen, wovon er den Profit abschöpfen kann, was er ungestraft manipulieren und zerstören darf? Eigentum hat man schon als Bündel von Rechten beschrieben.

Unterschiedliche Güter weisen unterschiedliche Eigenschaften auf. Ein Grundstück ist nicht dasselbe wie ein Regenschirm oder eine Aktie. Und ausgerechnet das Börsenpapier, der Urkontrakt des Kapitalismus, weist nur eingeschränkte Eigentumsrechte auf. Mit einer Aktie erwirbt man keine Verfügungsrechte am Unternehmen, und über die Verteilung des Profits befindet man nicht selbst, sondern die Generalversammlung.

Das Privateigentum ist relativ. Das ist eine gute Nachricht. Keine Konstante, keine Fatalität, nur das eigene Vorurteil hindert uns, die Eigentumsrechte zu überdenken.

Natürliche Allmenden

Eine reizvolle Form des Eigentums ist die Allmende. Dieses Gemeingut darf der Einzelne nutzen, verwaltet aber wird die Allmende kollektiv. Alpweiden sind häufig Allmenden, aber ihre Idee funktioniert ebenfalls in grossen Organisationen. Das ist der Fall beim norwegischen «The Fund», mit einer Billion Euro der kapitalstärkste Börsenfonds der Welt.

Als Norwegen in den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts in der Nordsee auf Öl stiess, entschloss sich das Land, den Reichtum als Gemeingut zu verwalten.

Norwegerinnen und Norweger leben vom Fischfang. Ozeane sind eine natürliche Allmende. Es wäre sinnlos, sie zu besitzen. Nach den Statuten von «The Fund» darf der Profit aus dem Öl nur im Ausland investiert werden. Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit müssen berücksichtigt werden. So soll in sechzig Jahren, wenn die Vorkommen ausgebeutet sein werden, das Vermögen auch den kommenden Generationen zur Verfügung stehen.

Diese Hinterlassenschaft erbte die Allgemeinheit: Die Sondermülldeponie in Kölliken, aufgenommen 2015.
Foto: Keystone / Ennio Leanza

Für die Atmosphäre gilt dasselbe. Auch sie ist eine natürliche Allmende. Wem sollten die Wolken, der Regen und der Wind gehören? Das Wetter mag unterschiedlich sein, aber für uns alle gibt es nur ein Klima. Doch die Luft wird als passive Ressource und als De-facto-Privateigentum genutzt, als Abfallhalde, als Grube für den Müll der Industriegesellschaft.

Politisch haben wir noch keine Antwort auf die Fragen, die sich aus dieser Tatsache ergeben. Sicher ist: Eine Gesellschaft, die sich der Klimapolitik verschreibt, muss notwendigerweise über den Eigentumsbegriff nachdenken.

Sex als Risikoverminderung

Wie man mit den Risiken der Vererbung umgeht, macht uns die Evolution vor, nämlich mit Sex.

Lebewesen können sich vegetativ, parthenogenetisch vermehren. Erdbeeren, Blattläuse und Bambushaie halten es so. Deren Kinder sind die Klone der Eltern und erben sämtliche genetischen Vor- und Nachteile, also zum Beispiel die Anfälligkeit auf Viren und Parasiten.

Sex teilt das Erbgut durch zwei, durch sexuelle Vermehrung gezeugte Nachkommen übernehmen ihre Gene hälftig von Mutter und Vater. Das Risiko wird halbiert.

Verluste erbt meist die Allgemeinheit. Teure Häuser, wie diese Villa am Vierwaldstättersee, bleiben über Generationen in Privatbesitz.
Foto: Shutterstock

Die Vermögen den Familien – Schulden und Abfall der Allgemeinheit

Wenn es um Erbprobleme geht, lautet die Lösung also teilen. Heute wird das Vermögen aus der Erbschaft privatisiert, die Schulden und der Müll aber werden sozialisiert, und die Sammlung Bührle folgt genau diesem Muster. Die Öffentlichkeit übernimmt die Passiven, die Aktiven bleiben bei der Familie. Es ist im Interesse aller Beteiligter, dieses wertvolle und kontaminierte Erbe gemeinsam zu tragen. Es gibt Lösungen, aber zuerst müssen die Beteiligten aus ihren Schützengräben kommen. Erinnerungskultur geht nur gemeinsam.

In der Pandemie verfügen wir diesbezüglich über einen Vorteil. Im Gegensatz zur Geschichte kann man sich gegen das Virus impfen lassen. Wer es jetzt nicht tut, überlässt sich der Dummheit und der Ignoranz.

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