Europa bewegt sich. Man kann nicht immer sagen, in welche Richtung, aber in vielen Nachbarländern herrscht eine starke politische Dynamik.
In Frankreich bringt die Präsidentschaftswahl vom nächsten April das Land in Bewegung. Für Präsident Macron wird es kein Spaziergang werden. Die Linke hat mit Anne Hidalgo eine Kandidatin, die als Stadtpräsidentin von Paris bewiesen hat, dass sie Wahlen auch gegen starke Kandidaten gewinnen kann. Auf der Rechten macht der Extremist Eric Zemmour dem ebenfalls extremistischen Front National mit Marine Le Pen Konkurrenz. Die Gewichte verschieben sich und bringen Frankreich in Bewegung.
In Deutschland ist nach Jahren der politischen Stagnation die Lust an der Veränderung zurückgekehrt. Man wird sehen, wie weit die zukünftige Koalition gehen wird, aber vorerst ist die Notwendigkeit radikaler Reformen unbestritten.
Auch in kleineren Ländern wagt man wieder mehr Politik. In Irland und Belgien binden Bürgerräte die Bevölkerung enger in die Entscheidungen ein. Das Interesse an diesen neuen demokratischen Formen ist gross. Auch sie zeugen vom Willen zur Veränderung.
Die Menschen haben verstanden. Wandel tut not. Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit. Der technologische Fortschritt, die Klimakrise, die Demografie: All dies erfordert rasche und tiefgreifende politische Massnahmen.
AHV-Reform, Europapolitik, Klima – überall harzt es
Nur in der Schweiz scheint man die Zeichen der Zeit nicht zu erkennen. In den wichtigsten Politikfeldern herrscht Stagnation, teilweise schon seit Jahrzehnten.
Seit der letzten AHV-Revision, der zehnten, sind sechsundzwanzig Jahre vergangen. In dieser Zeit ist die Lebenserwartung um fünf Jahre gestiegen. In dieser Zeit ist die Lebenserwartung der Männer von 75 auf 81, die der Frauen von 81 auf 85 Jahre gestiegen.
Der Europapolitik geht es noch übler. Im Mai brach der Bundesrat die Verhandlungen mit der EU ab. Der Rahmenvertrag ist tot. Eine Alternative existiert nicht einmal auf dem Papier. Wie nach dem Nein zum EWR steht zu befürchten, dass es Jahre dauern wird, bis die Schweiz sich den Tatsachen stellen wird.
Und seit dem vergangenen Sommer liegt leider auch die Energie- und Klimapolitik mit Totalschaden im Graben. Nach dem Nein zum CO2-Gesetz. Die Gesichter sind so lang wie der Weg zur nächsten Vorlage.
Im Hort der Stabilität, in der Wiege der Beständigkeit sind die politischen Entscheidungsprozesse unberechenbar geworden. Wir haben ein Führungsproblem.
Die Macht verschiebt sich vom Parlament zum Volk
Das Parlament, der Maschinenraum der Demokratie, dort, wo neue Gesetze debattiert, verhandelt und beschlossen werden, hat an Macht und Einfluss verloren. Der Hammer hängt heute im Bundesratszimmer: Ohne das Parlament auch nur zu informieren, schaffte die Regierung mit dem Verhandlungsabbruch in Brüssel Remedur. Das Parlament murrte nicht einmal und fügte sich in sein Schicksal.
Das Volk führt derweil die Sense und säbelt immer wieder die schönsten Blüten der parlamentarischen Gärtnerarbeit ab, zuletzt eben beim Nein vom 13. Juni 2021. Dieser Schnitter ist in den letzten Jahrzehnten stärker geworden. Statt einer Sense führt er heute einen Mähdrescher.
Die Volksinitiative wurde 1891 eingeführt. Damals waren zur Ergreifung 50'000 Unterschriften notwendig. Das waren 7,6 Prozent der Stimmberechtigten.
Heute braucht es zwar 100'000 Unterschriften, aber mit der demografischen Entwicklung ist das Quorum auf weniger als zwei Prozent der Stimmbevölkerung gesunken.
Im Falle des fakultativen Referendums hat sich das Verhältnis auf fünf zu eins verschlechtert.
Das sogenannte Volk ist also fünfmal stärker und das Parlament entsprechend schwächer geworden.
Und die Macht geht dorthin, wo die Werkzeuge liegen. Die Zahl der Referenden und Initiativen ist in den letzten Jahrzehnten ständig gestiegen. In den vergangenen dreissig Jahren hat sich die Zahl der Vorlagen im Vergleich zur Periode zwischen 1961 und 1990 quasi verdoppelt.
Die starken Volksrechte entmachten das Parlament. Es ähnelt heute einem konsultativen Gremium. Es kann zwar noch Vorlagen erarbeiten, aber damit rechnen, dass sie eines Tages auch Gesetz werden, kann es immer weniger.
Dieser Verlust an Macht und Einfluss führt zu einer Zersetzung der politischen Kultur. Sorgfältige parlamentarische Arbeit, die Erarbeitung guter Gesetze, die Suche nach dem Kompromiss, dies lohnt sich kaum mehr. Dafür zahlt sich Willkür und Opportunismus kräftig aus.
Im Parlament Ja sagen und draussen Nein
Ein anschauliches Beispiel liefert das Covid-19-Gesetz, über das wir in zwei Wochen abstimmen. Der Ausgang ist alles andere als gesichert, man wartet mit Spannung, Angst oder Panik auf den 28. November. Das ist so erstaunlich wie unerfreulich. Denn die parlamentarische Mehrheit war überwältigend gross. Im Nationalrat wichen von 200 nur 13 Stimmen ab, und der Ständerat entschied sogar einstimmig. Auch der Vertreter aus dem Tessin drückte im März auf den grünen Knopf. In seiner anderen Rolle als Präsident einer rechtsnationalen Partei agitiert er seither allerdings an vorderster Front für das Referendum, das von den Jungtürken seiner Partei zwecks politischer Profilierung in der Freizeit ergriffen wurde.
Das Verhalten des Tessiner Ständerats scheint verwerflich, unredlich und verlogen? Gut möglich, aber was kümmert das einen Opportunisten, dem es nicht um die Gesellschaft, sondern nur um seine Wähleranteile geht?
Referenden und Volksinitiativen waren von den Verfassungsgebern (es waren nur Männer) als letztes demokratisches Mittel gedacht. Hundertfünfzig Jahre später sind sie zur ersten Wahl geworden. Sie eignen sich einfach zu gut für die parteipolitische Propaganda. Das weiss man auch auf der linken Seite, wie eine Aussage des SP-Parteipräsidenten von letzter Woche anschaulich belegt. Auf die Frage, wie seine Partei aus dem momentanen Tief komme, antwortete er, dass die SP im kommenden Jahr zwei Volksinitiativen lanciere.
Der Mann ist eidgenössischer Parlamentarier. Er hat eine ordentliche Fraktion im Bundeshaus. Seine Partei besitzt zwei Sitze in der Regierung. Warum vergreift er sich an den Volksrechten?
Vielleicht, weil er weiss, dass sie längst ihres Namens spotten. Es sind mittlerweile Parteirechte, und warum sollte er so dumm sein, nicht reichlich von ihnen Gebrauch zu machen?
Die erste, die notwendigste Reform, die die Schweiz braucht, ist eine staatspolitische. Es liegt in der Verantwortung des Bundesrats, hier die Initiative zu ergreifen.
Volksinitiativen nur noch vom Volk
Die Volksinitiativen müssen der Zivilgesellschaft vorbehalten bleiben. Keine im Parlament vertretene Partei sollte das Recht haben, eine Volksinitiative zu lancieren.
Wenn mehr als zwei Drittel der Parlamentarier dem Gesetz zustimmen, müsste das fakultative Referendum ausgeschlossen werden. Dies würde den überparteilichen Kompromiss befördern und obstruktiven Kräften, denen es nur um die eigene Profilierung geht, das Wasser abgraben.
Gleichzeitig sollten die Quoren der Volksrechte direkt an die Demografie gekoppelt werden. Bei der Volksinitiative wären fünf Prozent eine vernünftige Grösse. Das wären heute 270'000 Unterschriften.
Wer hat den Mut und das Format, diese Reform anzugehen? Wir würden damit die direkte Demokratie stärken. Müsste das nicht im Interesse aller sein? Denn wenn die Politik nicht führt, machen es andere, im Falle der Schweiz zuerst die Wirtschaft. Die bringt uns zwar Wohlstand, aber keine Demokratie.