Lukas Bärfuss über die Schwierigkeiten im Gesundheitswesen
Meine Ärztin schaute mich an und meinte, es sei nun Zeit

Wenn es um die Gesundheit geht, kommen Politik und Wirtschaft an ihre Grenzen. Und das hat auch mit einer Sprachlosigkeit zu tun, schreibt Lukas Bärfuss in seinem Essay.
Publiziert: 09.07.2023 um 11:28 Uhr
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Aktualisiert: 13.07.2023 um 19:09 Uhr
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Lukas Bärfuss war bei einer Vorsorgeuntersuchung.
Foto: Getty Images
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Lukas BärfussSchriftsteller

Kommt ein Mann in ein gewisses Alter, so legt ihm seine Ärztin eines Tages während einer Visite vertrauensvoll die Hand auf den Unterarm, schaut in seine Augen und meint, es sei nun Zeit, der Augenblick gekommen.

Und so begab auch ich mich jüngst zu einer sogenannten Vorsorgeuntersuchung, deren Einzelheiten ich der geneigten Leserschaft ersparen will. Es reicht zu wissen, dass es eine tiefe, prägende Erfahrung war, ein Prozess, dessen Ablauf in mir ein Gefühl auslöste, das ich nur mit Ehrfurcht beschreiben kann.

Von unbekannten Mächten getragen, von der Pharmakologie zuerst, begaben sich mein Körper und meine Seele auf eine vierundzwanzigstündige Reise, die am Vorabend mit einer inneren, vollständigen Reinigung, einer Waschung, begann. Nach einer Nacht, in der ich von Unruhe heimgesucht wurde – jener des in Bewegung gebrachten Intestinums und der anderen, psychischen, der Angst vor den Resultaten, vor dem finalen Urteilsspruch und vor der Begegnung mit der Hinfälligkeit meines Fleisches –, hatte ich gegen Mittag den Gang in die Praxis anzutreten.

Dort musste ich mich vollständig entkleiden. Halb nackt, nur mit einem frivolen Messgewand bekleidet, musste ich mich auf eine Bahre legen. Ich war ganz hilflos. Dann spritzte man mir eine Substanz, die mir, als drehte jemand den Lichtschalter, von einem Moment auf den anderen das Bewusstsein raubte. Als ich dreissig Minuten später wieder erwachte, mich erhoben und angezogen hatte, da nahm ich in einem kahlen Zimmer das Verdikt entgegen: Der Befund sei unauffällig, so teilte mir der weisse Mann mit, Krankheit und Tod fürs Erste gestundet. Auf dem Heimweg, noch etwas schwindlig, empfand ich mehr als Erleichterung, ich war erfüllt von Dankbarkeit und Demut.

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«Während meiner Vorsorgeuntersuchung hatte ich mich nicht wie ein politisches Subjekt gefühlt.»
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Patient Gesundheitswesen

Als ich wieder zu Hause war, noch voll von diesem Zauber, da las ich über die andere Seite dieser Magie, über ein System, die Medizin, das selbst, als Ganzes, krank war und auf keine Genesung hoffen durfte. Die Ursachen waren vielfältig, ein perfekter Sturm, wie der Bundesrat in seiner gesundheitspolitischen Strategie anschaulich darlegte.

Die Winde, die das Gesundheitswesen zerzausten, hatten ihren Ursprung in den steigenden Gesundheitskosten, in der Zunahme der nicht übertragbaren Krankheiten, in den veralteten Strukturen, die vor allem auf die Akutversorgung setzten, im Mangel an Pflegepersonal, in der fehlenden Transparenz, in den sozialen Ungleichheiten, der mangelhaften Digitalisierung, die in der Schweiz in den Kinderschuhen steckte.

Dazu kam ein sogenannter Rebound-Effekt: Denn je besser die Gesundheitsversorgung, je wirksamer die Prävention, je durchschlagender etwa die Kampagnen gegen den Tabak- und Alkoholmissbrauch, umso älter wurden die Menschen. Und da mit jedem Lebensjahr die Nettoleistungen, die ein Mensch in Anspruch nahm, stiegen, und da wir gerade, wie die Experten erläuterten, immer häufiger am Lebensende an pflegeintensiven chronischen Krankheiten litten, schuf sich das Gesundheitssystem durch den eigenen Erfolg immer grössere Probleme.

Weil die Toten zwar keine Kosten mehr verursachen, aber leider auch keine Prämien mehr bezahlen, befand man sich in einer Sackgasse. Niemand sah den Ausweg, die Vorschläge waren zu teuer, zu marginal, zu ideologisch oder alles zusammen.

Diese Krise stand in einem eklatanten Widerspruch zu meiner jüngsten Erfahrung. Die Präzision und die Professionalität hatten mich beeindruckt, ja überwältigt, und dazu fand ich die Debatten, überhaupt den Begriff der «Gesundheitspolitik», selbst als völlig unpassend. Während meiner Vorsorgeuntersuchung hatte ich mich nicht wie ein politisches Subjekt gefühlt. Ich war gerade das Gegenteil eines mündigen, selbstbestimmten Staatsbürgers.

In der Medizin ist man der Unterlegene

Einer Macht ausgeliefert, deren Mittel mir rätselhaft blieben, konnte ich nicht beurteilen, was daran angebracht, vernünftig oder überflüssig war. Mir fehlte das entsprechende Wissen. Ich musste der ärztlichen Expertise blind vertrauen, mich in ihre Hände begeben. Hoffnung und Vertrauen waren gefordert, zwei gänzlich unpolitische Kategorien.

Ferner: Im Gegensatz zu einem demokratischen waren die Rollen in diesem medizinischen System niemals vertauschbar. Politische Macht ist zwar nur geliehen, eines Tages muss man sie zurückgeben und wieder zum gewöhnlichen Bürger werden. Aber gleichzeitig besteht für alle die Möglichkeit, Verantwortung und Macht zu erlangen.

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Während meiner Vorsorgeuntersuchung hatte ich mich nicht wie ein politisches Subjekt gefühlt.
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In der Medizin gibt es dieses reziproke Verhältnis nicht. Es gibt keine Stellvertretung. Ich werde immer der Schwache sein, immer der Beherrschte, der Regierte. Zwar wird jeder Mensch eines Tages mit einiger Wahrscheinlichkeit zum Patienten, aber es ist undenkbar, dass jeder Mensch zum Arzt wird. Und im Gegensatz zu anderen Bereichen einer arbeitsteiligen Gesellschaft, steht, wenn es um die Medizin geht, nicht die Bildung oder der Transport, sondern das Leben selbst auf dem Spiel.

War schon der Begriff der «Gesundheitspolitik» unangebracht, wie sehr viel mehr traf dies auf den «Gesundheitsmarkt» zu. Der Dachverband der Wirtschaft, wenig erstaunlich, wusste, wie man den Problemen im Gesundheitswesen begegnen sollte: mit dem einzigen Hammer, der in deren Werkzeugkiste liegt. Mehr Markt, also mehr Leistungswettbewerb, mehr Eigenverantwortung – und was fehlte noch in der heiligen Dreifaltigkeit der Marktgläubigen? Richtig, der Abbau von Regulierungen.

Aber ich hatte mich bei meiner Vorsorgeuntersuchung nicht eine Sekunde als Kunde gefühlt. Nur theoretisch, in einem sehr abstrakten Sinne, hatte man mir zwischen verschiedenen Produkten oder Dienstleistungen die Wahl gelassen. Niemand geht ganz und gar freiwillig auf diesen Markt, das heisst, zum Arzt oder in die Pflege.

Auch zwei andere wesentliche ökonomische Begriffe spielten für mich als Patienten nicht die geringste Rolle: nicht die Leistung und auch nicht der Preis. Nur unter grösstem Zwang hätte ich Ja gesagt zu einer Behandlung, die zwar nur die Hälfte kostet, aber die doppelten Schmerzen verursacht oder nur eine halbe Heilung versprach.

Geht es um die Gesundheit, kommen die politischen und wirtschaftlichen Begriffe an ein Ende. Ich bin nicht freiwillig in dieses Leben gekommen, und obwohl ich eines Tages sterben werde, habe ich keine Absicht, dieses wundervolle Leben freiwillig zu verlassen.

Die Gesundheitssphäre hat eine eigene Sprache

Politik und Wirtschaft suchen nach funktionierenden Prozessen, nach Lösungen, aber das Leben selbst ist kein Problem, und es gibt keine Lösung dafür. Früher oder später werden wir alle hinfällig, schwach, sogar krank, und keine Politik und kein Markt können uns davor bewahren.

Wenn es um die Gesundheit geht, brauchen wir andere Begriffe. Sie gehören allesamt zu einer Sprache der Metaphysik, der Irrationalität, der Religion und der Kunst, und vielleicht sind das Malaise und die verzweifelten Versuche, einen Ausweg zu finden aus den Aporien unserer Gesundheitsversorgung, die Folge einer Sprachlosigkeit, die weite Teile unserer Gesellschaft erfasst hat.

Ich selbst hatte Glück, noch einmal, die Vorsorgeuntersuchung brachte die erwünschten Resultate. Aber eines Tages werden die Befunde auffällig sein, ich werde mich damit abzufinden haben, Abschied nehmen müssen, wie es allen geschieht, früher oder später.

Es wäre schön und für eine humane Gesellschaft entscheidend, wenn auch diese Erfahrung, die weder in politische noch wirtschaftliche Begriffe passt, weder in eine Statistik, noch in eine Tabelle und auch in keine Kostennutzenanalyse, eine Rolle spielen würde.

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