Lukas Bärfuss über Jubiläen
Erinnern tut weh

Erinnerungen sind oft peinlich und unangenehm. In seinem Essay schildert Lukas Bärfuss, wie das Feiern von Jubiläen eng mit politischer Propaganda verknüpft ist.
Publiziert: 20.08.2023 um 07:00 Uhr
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Aktualisiert: 08.09.2023 um 13:55 Uhr
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Lukas BärfussSchriftsteller

Jubiläen sind lehrreich und schmerzhaft durch ihre Form und ihren Inhalt. Das lässt sich am Hip-Hop erkennen, der in diesen Tagen seinen fünfzigsten Geburtstag feiert.

Im August 1973 erfand in New York der 18-jährige Clive Campell unter dem Namen DJ Kool Herc ein Verfahren, mit dessen Hilfe er die instrumentalen, tanzbaren Teile beliebter Songs bis zur Ekstase der Partygänger verlängern konnte. Zwei Plattenspieler und zwei identische Vinylscheiben reichten ihm dafür. In Verbindung mit dem Rap wurden diese Merry-Go-Rounds zu einer Musik, von der die Welt bis heute nicht genug bekommen kann.

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Das ganze Elend einer marginalisierten Minderheit wird hier zur «Message», zur Botschaft.
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Wer sich an diesen Anfang erinnert, der wird feststellen, wie weit sich der Hip-Hop von seinen Ursprüngen entfernt hat. Die Bronx war ein sozialer Brennpunkt, ein afroamerikanisch und migrantisch geprägtes Stadtviertel, zerrüttet von Armut, Drogen und Gewalt. Von dieser traurigen Wirklichkeit berichtet ein früher Hit, «The Message» von Grandmaster Flash and the Furious Five aus dem Jahre 1982, in anschaulichen und drastischen Versen. Die Ratten, die Pisse, der Müll, der Gestank. Die Junkies als Gespenster in den Strassen. Die zweistellige Inflation, die Kriminalität, der korrupte Kapitalismus: Das ganze Elend einer marginalisierten Minderheit wird hier zur «Message», zur Botschaft, die die Welt erreichen und aufrütteln will.

Heute ist Hip-Hop in weiten Teilen ein Multimilliarden-Geschäft, eine Gewalt, Drogen und Sexismus verherrlichende Geldmaschine. Diese Tatsache hat grosse Kunst nicht immer verhindern können. Die Subkultur aber hat sich längst in andere Formen und Regionen verzogen.

Da war der Hip-Hop noch jung und nah bei seinen Wurzeln. LL Cool J und seine Crew bei einem Videodreh für seine Single «I Need Love», 1987.
Foto: Getty Images

Jubiläen, alle Formen und Spielarten der Erinnerungskultur, stellen Fragen, die sich auf andere Gegenstände ausweiten. Man fragt sich etwa, ob die Geschichte des Hip-Hops prototypisch das Schicksal jeder Subkultur beschreibt: vom Rand allmählich in die Mitte, eine Zerstörung durch Erfolg. Im Techno erkennt man ähnliche Muster. Mit Rhythmus und Methylendioxyamphetamin hielt die Szene dem Establishment und seiner Prüderie den Rausch als Provokation und Alternative entgegen.

Heute wird die wichtigste Party des Techno, die Street Parade in Zürich, vom personifizierten Sinnbild dieses Establishments besucht – schlimmer noch, vom Sinnbild der Behörden: vom Bundespräsidenten und alt Bundesrat in spe, Alain Berset. Heute trägt er an der Parade die passende Garderobe, aber vor nicht langer Zeit waren er und seine Angestellten mit ihren Sperrstunden und Bewilligungsverfahren der natürliche Feind des Techno, damals, als er noch der Subkultur gehörte.

Nein, Hip-Hop und Techno sind nicht tot, sie riechen nur seltsam.

Es sind diese ausufernden und schmerzhaften Fragen, die politische Jubiläen hierzulande unbeliebt machen. Man mag das nicht und gibt sich auch keine Mühe. Langweilig und öde ist das heurige Gedenken an den 175. Geburtstag unserer lieben, traurigen Bundesverfassung. Falls Sie von diesem Anlass nichts gehört haben sollten, dürfen Sie sich nicht grämen. Der partysüchtige Bundesrat Berset hat als Vorsteher des zuständigen Departements wenig unternommen, um Ihre Neugier zu wecken und die Erinnerung an dieses historische Ereignis aufzufrischen.

Der Sinn der Street Parade richtete sich ursprünglich gegen das Establishment. 2023 feiert das Establishment in Form von Bundesrat Berset an der Street Parade mit.
Foto: keystone-sda.ch

Öffentliche Erinnerungsfeiern sind nicht nur in der Schweiz ein Stiefkind der bürgerlichen Kultur. Als der Nationalismus jung war, im 19. Jahrhundert, brauchte er Rechtfertigung. Im Zuge des Positivismus, der historischen Wissenschaft, kam man auf die Idee, sie in der Vergangenheit zu suchen. Aber geschichtliche Wahrheit und politisches Interesse finden selten zusammen. Praktischer sind Legenden, die den eigenen Ansprüchen genügen. Bei der Herstellung dieser Gründungsmythen scheint das Mass an historischen Fakten eine untergeordnete Rolle zu spielen. Die Schweiz ist dafür ein extremes Beispiel.

Im 19. Jahrhundert legte sie sich auf eine Erzählung fest, die deutlich weniger historische Tatsachen enthält als zum Beispiel die Comics von Asterix und Obelix. Der Nationalismus hat seinen Mythos durchgesetzt, erfunden aber wurde er früher. Die Mär der freiheitsliebenden Bauern, die sich gegen ihre habsburgischen Unterdrücker auflehnen, ihre Burgen stürmen und ihre Anführer töten, wurde im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts entwickelt. In jener Zeit waren die Herren in Zürich mit den angeblich so verhassten und bösen Österreichern glücklich verbandelt und staatsvertraglich verbunden. Ein Streit über die Ansprüche auf das habsburgische Erbland Toggenburg führte zum Krieg mit der Eidgenossenschaft.

Der Bund brauchte einen Kriegsgrund, Gier und Habsucht lassen sich nicht öffentlich vertreten. Und so hielten sie den vertraglich berechtigten Ansprüchen der Zürcher ihre alten Bündnisse entgegen und deuteten sie, entgegen der eindeutigen Absicht ihrer Verfasser, zu völkerrechtlichen Verträgen um. Sie zwangen die Zürcher, ihre Beziehungen zum Hause Habsburg zu beenden und dem Kanton Schwyz das schöne Toggenburg zu überlassen. Aegidius Tschudi und Hans Schriber vervollständigten bald darauf in ihren Chroniken das Narrativ mit Legenden aus dem europäischen Sagenschatz: Auftritt der nationalen Pappnasen Wilhelm Tell, der Stauffacherin und auch des ollen Winkelried, reine Propaganda, historisch so verbürgt wie Majestix, Troubadix und Idefix.

1848, das Geburtsjahr der modernen Schweiz, prangt als Baugerüst-Einkleidung am Bundeshaus, ist sonst aber wenig präsent.
Foto: Keystone

Historische Fakten sind für die politische Propaganda unbrauchbar. Zu ambivalent, die Erkenntnisse zu vorläufig, zu widersprüchlich. Dazu sind Interessen, die hinter den geschichtlichen Ereignissen stehen, selten moralisch, dafür immer menschlich. Nur mit Bauchschmerzen befasst sich die Politik mit der Vergangenheit.

Ein Beleg dafür sind hilflose und peinliche Jubiläums-Spots, mit denen die Landesregierung zurzeit das Kino-Publikum traktiert. Da steht ein Polizist, eine Lehrerin oder ein Rentner vor einem Streifenwagen, in einem Wald oder auf einem Balkon und rezitiert einen Artikel der Bundesverfassung in die Kamera. That's it, Jubiläum! Weder Kommentar noch Erläuterung, sie fehlen, wie es überhaupt der geringsten Vorstellung ermangelt, was diese Bundesverfassung für uns Zeitgenossen bedeuten könnte. Wo ihre Stärken, ihre Schwächen, ihre Chancen und ihre Gefahren liegen.

Diese Ideenarmut wird in den Spots durch die Ausstattung ausgeglichen. Von Kostümen und Kulissen versteht man etwas, hier schwelgt und bebt der Nationalcharakter! Ein Ländlerduo im Übungsraum, ein junger Mann mit Migrationshintergrund in einem neongelben BMW: alles so akkurat nach dem Zeitgeist gezeichnet wie die Illustrationen von Eugen Hartung im Maggi-Liederbuch aus der Nachkriegszeit. Und wie diese zeigen auch die modernen Spots die denkbaren Lebensentwürfe, die möglichen Muster, in denen sich eine schweizerische Biografie zu vollziehen hat.

Wie auch immer man zum Hip-Hop oder zur Bundesverfassung stehen mag: Gewiss wünscht man sich eine Feier, die zum Jubilar passt. Erinnerungen sind aber oft peinlich und unangenehm. Das gilt umso mehr für die öffentliche Erinnerung. Ständig lauern die Gefahren, entweder den Anlass oder das Publikum zu verpassen. Deshalb bleiben die Reden zur Bundesfeier in der Regel rhetorische Nieten.

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Die Geschichte vom Widerstand gegen eine äussere Gefahr konnte durch einen beliebigen Feind besetzt werden.
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Der Souverän, ohne von seiner politischen Macht Gebrauch zu machen, versammelt sich als Publikum, um seiner selber zu gedenken. Aber da der Anlass keine Abstimmung und keine Wahl ist, hat das Stimmvolk keine Aufgabe. Es gafft und wartet auf das Ende der tödlichen Festrede, bekämpft die nationalen Minderwertigkeitsgefühle erfolgreich mit Cervelat, Humpen und Feuerwerk. Die Propaganda hat den Zweck erfüllt und wirkt gerade durch ihre Drögheit, Fantasielosigkeit und geistige Armut. Dieselbe schlichte Lüge, über Jahrhunderte wiederholt, wird zwar nicht zur Wahrheit, aber zur Tatsache.

Das ist im Fall der Schweiz besonders tragisch, weil einige Elemente dieser Propaganda schädlich und für das Land zum Problem geworden sind. Dazu gehört die «Befreiungstradition», die Idee, dass sich die Schweiz durch die Befreiung von einem Joch geformt habe, durch den Freiheitswillen einiger Bauern. Die Geschichte vom Widerstand gegen eine äussere Gefahr konnte durch einen beliebigen Feind besetzt werden. Zuerst waren es das Reich und die Imperien, danach war es Preussen, während der geistigen Landesverteidigung das nationalsozialistische Deutschland und im Kalten Krieg die Sowjetunion.

Als die Schweiz schliesslich von endgültigen Freunden umzingelt war, schien es dem Mythos an den Kragen zu gehen, bis jemand auf die Idee kam, die Kommunisten mit der EU auszutauschen. Und noch im Jahr 2023 verhindert ein propagandistisches Narrativ aus dem Mittelalter, dass die Schweiz mit der EU ein geregeltes, rechtsverbindliches Verhältnis pflegt.

Eine romantisierte Darstellung der Einführung der Bundesverfassung 1848.
Foto: Keystone

Eine lebendige Erinnerungskultur besitzt zwei Eigenschaften. Sie ist erstens offen für Korrekturen durch die Wissenschaft. Forschung korrigiert, ergänzt und erweitert das Bild der Geschichte, das niemals vollständig sein wird. Und deshalb, als zweites Merkmal und im Gegensatz zur politischen Propaganda, ist Erinnerungskultur niemals abgeschlossen. Erinnerung ist ein Prozess, kein Ergebnis.

Dieser Prozess ist heilsam, er kann eine Gesellschaft befrieden. Aber er ist häufig schmerzhaft. Und deshalb ist Geschichtsklitterung und Beschönigung häufig. So schreibt der Bundesrat auf seiner Jubiläums-Website, mit der Bundesverfassung von 1848 sei die Schweiz zur ersten Demokratie Europas geworden. Das ist natürlich falsch. Wer die schweizerische Demokratie feiern möchte, der sollte sich an den 27. November 1990 halten.

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Statt Tell und Winkelried müsste man am Schrein der Nation besser Theresa Rohner verehren.
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An jenen Tag, als das Bundesgericht den Kanton Appenzell Innerrhoden zwang, Frauen die politischen Rechte zu gewähren. Erst vor 33 Jahren war die Demokratie auf dem schweizerischen Territorium durchgesetzt. Statt Tell und Winkelried müsste man am Schrein der Nation besser Theresa Rohner verehren. Sie ist ohne Zweifel eine schweizerische Heldin, die Vollenderin der schweizerischen Demokratie.

Falls Sie diesen Namen noch nie in Ihrem Leben gehört haben, dann mögen Sie kurz googeln und sich fragen, woran Ihre Ignoranz liegen könnte. Es gibt nämlich eine politische Praxis, die mit den Jubiläen die Ziele teilt, dazu aber die gegenteiligen Mittel benutzt. Es ist die Damnatio memoriae, das Auslöschen einer unliebsamen Erinnerung. Sie ist der Grund, weshalb Ihnen auch der 14. November 1918, das Jahr 1926 oder der 4. Oktober 1938 keine Begriffe sein dürften. Das ist nicht Ihre Schuld, aber durchaus Ihre Verantwortung. Auch hier hilft googeln. Die passenden Stichworte sind «Landesstreik», das genozidale Projekt «Kinder der Landstrasse» und «Judenstempel».

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