Was sucht der Mensch zuerst, wenn er morgens die Augen aufschlägt, nach einer langen Nacht? Was braucht er ohne Unterlass den ganzen Tag, bis er sich abends wieder in die Federn legt?
Er sucht vor allen Dingen Orientierung. Das Gefühl, wenn nach dem Erwachen der Ort und die Zeit ungewiss bleiben: bedrohlich, unerträglich. Wer sich nicht orientieren kann, der ist dem Leben verloren, wird verrückt und stirbt.
Die Orientierung fällt nicht leicht. Die multiplen Krisen der Gegenwart, der Krieg in der Ukraine, der globale Notstand, dazu die politischen Querelen, der Lärm und Stumpfsinn des Wahlkampfs – all dies erschwert die Navigation durch den Nebel der Aktualität. Oft gehen die Koordinaten verloren, verliert man sich. Und nicht selten steht eine Absicht dahinter, und die Sprache, die uns die Richtung weisen sollte, dient nicht der Klarheit und der Übersicht, sondern der Täuschung und der Propaganda.
Wie an jenem Donnerstag Ende August, als der Generaldirektor der einzigen Monsterbank der Schweiz, ein Mann namens Sergio Ermotti, zur Medienkonferenz lud, um die Quartalszahlen seiner UBS zu präsentieren.
Der Sergio, wie er von seiner Medienchefin salopp begrüsst wurde, erschien ohne Krawatte, aber die Stimmung war nicht so locker, wie Anrede und Garderobe es vermuten liessen. Kameras, jedenfalls, waren nach den einleitenden Worten des CEO nicht mehr zugelassen.
Zum ersten Mal in der Geschichte, so Sergio zu Beginn, fusionierten zwei globale, systemrelevante Finanzinstitute. Das sei eine sehr komplexe – und hier stockte der CEO, suchte nach dem Wort, er hatte es gefunden, aber es schien, als ob er es nicht aussprechen wollte, ein anderes suchte, er fand es nicht, a very complex, äh, äh, äh, äh, äh, äh, äh, äh – acht Mal zögerte er, bis er schliesslich noch das Wort fand, «a very complex transaction».
Transaction. Ein harmloses Wort für einen Gewinn von 29 Milliarden, der von der UBS, dem finanziellen Behemoth, eingestrichen wurde. 29 Milliarden! Das sind ziemlich genau die kumulierten Kosten für die AHV, die IV und die Migration zusammen – pro Jahr. Mit 29 Milliarden leistet man sich während fünf Jahren die Schweizer Armee, acht Jahre die Landwirtschaft und drei Jahre die Forschung und die Bildung. Und die UBS streicht diese Summe in einem einzigen Quartal ein? Huch!
Und Milliarden, abgesichert durch eine initiale Staatsgarantie, gehen nun an die glücklichen UBS-Aktionäre? Ganz genau! Und vielleicht in Form von Boni sogar an die noch glücklicheren Manager?
Wer das behaupte, habe von Wirtschaft keine Ahnung, antwortete da mit forscher Stimme der Sergio. Leider seien die 29 Milliarden nicht boni-relevant. Die 29 Milliarden seien überhaupt kein Gewinn, sie seien der «negative Goodwill».
Huch! Negativer Goodwill! Nie gehört. Was soll das sein? Wer wagt die Frage, wer riskiert die Antwort?
Niemand kennt den Wert einer Ware. Ein Gebrauchtwagen? Sein Wert ist relativ. Will man das Auto fahren oder zerlegen und seine Einzelteile verhökern? Der Wert hängt zudem von unzähligen, unbestimmbaren Faktoren in der Zukunft ab: vom wirtschaftlichen, sozialen, politischen Umfeld, von den Steuern, den Umweltschutzauflagen, dem Zustand der Strassen, dem Benzinpreis, von den verfügbaren Ersatzteilen und Mechanikern.
Und vor allem: Egal wie der Wert veranschlagt wird, entscheidend für den Preis ist der Wille des Käufers, den Wagen zu besitzen. Wenn er bereit ist, mehr als den Wert zu bezahlen, so zeigt er Goodwill. Und der negative Goodwill? Bezeichnet genau das Gegenteil. Wenn ich dem weniger bezahle, als der Wagen eigentlich wert ist. Eben wie im Fall der CS.
Ihr Wert liegt nach den Rückstellungen, nach Abzug von Reserven für alle möglichen und unmöglichen Eventualitäten fast zehnmal höher als der Kaufpreis. Warum die CS akzeptierte: Sie hatte kein Geld und keine Wahl, und wer widersetzt sich schon der schweizerischen Finanzministerin und der Börse? Aber ist es nicht unmoralisch, jemandem unter Zwang etwas abzunehmen, zum Zehntel des Wertes? Ist das nicht sittenwidrig, ist das nicht Nötigung?
Das werden wohl die Gerichte klären müssen. Und gibt es nicht ein anderes Wort für den negativen Goodwill? Ist das Antonym nicht Badwill? Doch, aber einen 30-Milliarden-Gewinn als bösen Willen zu bezeichnen, davon muss die Medienchefin ihrem Sergio wohl abgeraten haben.
Er musste schliesslich neben den exorbitanten Gewinnen auch noch die Entlassung von 3000 Angestellten ankündigen. 3000, das ist viel, das ist übel. Allerdings: Hätte es nicht ein Vielfaches sein können?
Es ist ein Vielfaches. Schon wieder den negativen Goodwill vergessen? Hier bezeichnet er die Differenz zwischen «Entlassungen» und «Stellenabbau». Auch hier beträgt diese Differenz ungefähr den Faktor zehn: Nicht 3000, nein 27'000 Stellen sollen verloren gehen.
Die Differenz zwischen der Wirklichkeit, wie sie ist, und der Wirklichkeit, wie sie zu sein hat: Das ist der negative Goodwill. Er ist nützlich in vielen Lebensbereichen. Das dachte sich auch der Zürcher Ständerat Jositsch. Er tat es ein paar Tage später dem Ermotti gleich und lud ebenfalls zu einer Medienkonferenz. Auch er hatte Grosses, wenn auch nicht unbedingt Neues zu verkünden: Herr Jositsch wäre so gerne unser aller Bundesrat!
Es fehlt hier der Platz, um die Wechselfälle der Jositschen Bundesrats-Kandidaturen nachzuzeichnen. Um ihre Geschichte in Erinnerung zu rufen, reicht es, die Frage einer Journalistin und Jositschs Antwort anlässlich der Medienkonferenz zu zitieren:
«Herr Jositsch, auf einer Skala von 0 (gar nicht) bis 10 (unbedingt) – wie fest wollen Sie Bundesrat werden?»
Antwort: «Ich will dieses Amt – aber ich will es nicht unbedingt. Das heisst, ich kann sehr gut damit leben, nicht nominiert zu werden. Auf der Skala ausgedrückt: Wollen: 10 – unbedingt: 0.»
Man kann sich über diese Logik den Kopf zerbrechen und wird in diesem Wirrwarr niemals eine Orientierung finden. Der Satz ist sinnlos, absurd, widersprüchlich – doch nur so lange, bis man sich an den negativen Goodwill erinnert.
Hier bezeichnet er die Differenz zwischen dem masslosen Ehrgeiz des Kandidaten und der Grösse der anstehenden Aufgaben. Es ist die Differenz zwischen dem Interesse des Landes und dem Interesse eines Panachierkönigs und erfolgreichen Renegaten, die Differenz zwischen seinem linken Parteibuch und seiner rechten Wählerschaft.
Weiter gefasst bezeichnet der negative Goodwill die Differenz zwischen Jositschs populistischen Ansichten zur Neutralitätspolitik und dem Überlebenskampf der Ukraine. Es ist die Differenz zwischen Feigheit und Freiheit, die Differenz zwischen Zürich und Saporischschja, die Differenz zwischen Propaganda und Wahrheit.
Der negative Goodwill ist die Differenz zwischen dem Getöse im Wahlkampf und dem Schweigen über die fehlenden Perspektiven dieser Gesellschaft. Wie soll es weitergehen in der Klimapolitik, wie mit den Sozialwerken, wie soll es weitergehen in der Europafrage? Wie geht es weiter mit einer Finanzindustrie, die eines ums andere Mal die Politik übertölpelt und sich dank Bürgschaften Milliarden einstreicht? Wie soll es weitergehen im Herzland des Kapitalismus, wenn dieser Kapitalismus die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft frisst? Was taugen die Stützen dieser Gesellschaft, wenn sie die Worte zu ihrem eigenen Vorteil verdrehen?
Der negative Goodwill, dieses Oxymoron, ist das beredte Schweigen einer Gesellschaft, die sich in ihrer Verwirrung an den ewigen Fixpunkten orientiert, den verlässlichen Koordinaten der menschlichen Niedertracht: an der Macht und an der Gier.