Lukas Bärfuss über den kommenden Wahlkampf
Halloween in Bern

Es herbstelt in der Schweizer Politik. Vom Frühling ist grad gar nichts zu spüren. Der Abstimmungskampf steht vor der Tür. Und mit ihm die Zeit der Gespenster und Horror-Clowns.
Publiziert: 13.05.2023 um 15:13 Uhr
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Lukas BärfussSchriftsteller

Grau der Himmel, kühl die Temperaturen, über den Fluren liegt morgens weiss der Nebel. Der Alpenraum, so vermeldet die staatliche meteorologische Anstalt, liegt im Einflussbereich eines grossräumigen Tiefdruckgebietes über dem zentralen Mittelmeerraum. Mit schwacher südöstlicher Strömung fliesst feuchte und zunehmend labil geschichtete Luft über das Land. Es ist nass und kühl, in den Bergen ist Schnee gefallen, Mitte Mai, und in der Schweiz ist es Herbst geworden.

Die Vernunft mag wissen, wie dankbar wir mit den Bauern und den Böden für dieses Sauwetter sein sollten. Aber die Niederschläge wollen verkraftet sein, nicht mit dem Geist, sondern mit dem Gemüt. Wer kann sich der Melancholie erwehren, wer fürchtet nicht die länger werdenden Schatten, die dunklen Nächte, die schweren Träume und die Depressionen?

Es herbstelt rund ums Bundeshaus, schreibt Lukas Bärfuss.
Foto: KEYSTONE

Ja, in diesem Jahr herbstelt es schon im Mai. Wie weiss doch der Volksmund? Das Laub fällt von den Bäumen, ein Hund bellt irgendnöimen. Die Welt wird still und wartet auf den Oktoberblues. Er bringt Nebel, Bodenfrost und termingerecht nach vier trüben Jahren die nächsten eidgenössischen Wahlen.

Bei Kerzenlicht und Kürbissuppe wirft man einen nachdenklichen Blick auf die vergangene Legislatur. Wehmut und Unglauben machen sich breit, wenn man an die Frühlingsgefühle denkt, die damals, vor einer Ewigkeit, man kann fast sagen, in einem anderen Jahrhundert das frisch gewählte Parlament im Land verbreitete. Mehr Ökologie, mehr Frauen, mehr Jugend! Es waren heitere Tage, belebend und ephemer wie jede Trunkenheit!

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Statt die Natur und das Klima retteten wir die Banken.
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Die Pandemie erfasste das Land, und kaum war sie einigermassen ausgestanden, mit der Betonung auf «einigermassen», kam der Krieg in die Nachbarschaft, nach Europa, in die Ukraine. Aber wenn es kälter wird, dann halten wir uns in der Schweiz an die bewährten Rezepte, an die erprobte Garderobe. Statt Ökologie nun wieder Wirtschaft. Das CO2-Gesetz haben Volk und Stände im Juni 2021 abgelehnt, und auch der Schutz des Wassers und der Scholle musste der Souverän auf bessere Tage verschieben. Statt die Natur und das Klima retteten wir die Banken.

Wenn die Winde das Vaterland zerzausen, müssen alle auf Deck und die Segel reffen, auch die Frauen. Bis fünfundsechzig dürfen sie nun arbeiten und dem Wohlstand dienen. Und wer sich an jenem Abstimmungssonntag über ein geringes Gehalt beschwerte, dem haben wir die Faulheit mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer ausgetrieben.

«Wenn es kälter wird, dann halten wir uns in der Schweiz an die bewährten Rezepte, an die erprobte Garderobe. Statt Ökologie nun wieder Wirtschaft», sagt Lukas Bärfuss.
Foto: Getty Images

Herbst ist da, und wer jetzt kein Haus hat, wie Rainer Maria Rilke wusste, der baut sich keines mehr. Selbst eine Wohnung ist nur schwer zu finden und noch schwerer zu bezahlen. Doch die dunkle Jahreszeit bringt auch die Besinnung auf die eigenen Fehler. Vielleicht hätten wir die Initiative «Mehr bezahlbare Wohnungen» doch lieber gutgeheissen. Aber es waren andere Zeiten, damals, Ende 2019, wir waren zwar grüner, weiblicher und jünger, aber im Grundsatz immer noch liberal und voller Vertrauen in den Markt. Eigenverantwortung, Wachstum und Produktivitätszuwachs, davon handelten damals unsere Lieder. Wie unverständlich, wenn es kühl und finster wird und man froh um die Wärme und die Solidarität einer Gemeinschaft wäre.

Es ist schon richtig, was der erste Dichter dieses Staates, Gottfried Keller, uns vor bald hundertachtzig Jahren ins Stammbuch schrieb: Im Herbst erblichen liegt das Land / Und durch den dichten Nebel bricht / Der blasse Strahl von Waldes Rand / Den Mond doch sieht man selber nicht

Die Sicht ist wahrlich schlecht.

Und mehr noch wusste dieser kluge Mensch: Es ist auf Erden keine Stadt / Es ist kein Dorf, des stille Hut / Nicht einen alten Kirchhof hat / Drin ein Märtyr der Freiheit ruht!

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Von den erschreckten Bürgern verlangen sie Süsses, denn sonst setzt es Saures!
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Davon gelernt und sich vor einem unnützen Opfer bewahrt hat vergangene Woche auch die Staatssekretärin, unsere erste Frau in Brüssel. Wer will es ihr verargen, wenn sie jetzt ein wärmeres Plätzchen sucht. Sie packt die Zelte ein, wird noch die Sondierungsgespräche zu Ende führen und sich danach hinter den wohlverdienten Ofen verkriechen. Nichts als vernünftig ist dieser Entschluss. Man wird sich doch nicht selbst gefährden. Es ist nicht die Witterung, um eine verlorene Expedition nach Brüssel, nach Europa zu führen. Zudem ist die Seilschaft ein zerstrittener Haufen und denkbar schlecht ausgerüstet, man hat manchmal sogar den Eindruck, der Bundesrat habe den Wein längst vor dem Gipfel getrunken. Weder über das Ziel noch über die Route besteht Einigkeit. Die Orientierung scheint endgültig verloren. Dabei stehen die schweren Stürme, die Verhandlungen, noch bevor. Und wie die Winde zwischen den Isobaren fällt jedes europapolitische Lüftchen zwischen dem Lohnschutz der Gewerkschaften und den rechten Souveränitätsneurosen gegen Boden. Verlässliche Mehrheiten, für die Demokratie so unverzichtbar, sind kaum mehr zu erwarten. Man müsste zuerst das allgemeine Interesse formulieren, aber das ist politisch schädlich, vor allem für Kandidierende, vor allem im herbstlichen Wahlkampf.

Stattdessen steht Halloween vor der Tür, so fühlt es sich an, die Gespenster gehen um, die schauerlichen Clowns mit ihren Ruten und den Tröten. Von den erschreckten Bürgern verlangen sie Süsses, denn sonst setzt es Saures!

«Wer will es ihr verargen, wenn sie jetzt ein wärmeres Plätzchen sucht», schreibt Lukas Bärfuss über Staatssekretärin Livia Leu.

Aber lasst uns nicht verzagen und in den Keller steigen und vom Eingemachten naschen! Vom Sirup, von der Konfitüre und dem Eingekochten! Von der Neutralität und von den Geschäften mit den Russen und den Chinesen! Gesund ist das Eingekochte nicht, aber es nährt halt doch den Magen und die Seele. Lasst uns für einen Tag das vegane Menü vergessen und ein schönes Schweinchen schlachten, nicht versinken in der Trübnis, denn bald kommt schon der nächste warme Winter und gewiss die nächste Trockenzeit. Unsere Gedanken gehen zu den Brüdern und den Schwestern in den Bergsturzgebieten, wir sprechen ein Gebet für den Permafrost und hoffen, zum Wohle aller und der Tourismusindustrie, in diesem Jahr auf frühen Schnee!

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