Lukas Bärfuss über die Verantwortung unseres neuen Parlaments
Dem Wandel mit Mut begegnen

In dunklen Zeiten wählt die Schweiz ein neues Parlament. Es ist das 52. In seinem Essay zeigt Lukas Bärfuss auf, warum es in einer besonderen Verantwortung steht – und warum er den Gewählten für ihre Arbeit Schneid und Courage wünscht.
Publiziert: 21.10.2023 um 13:07 Uhr
|
Aktualisiert: 21.10.2023 um 13:57 Uhr
1/6
Die Schweizer Stimmbevölkerung hat in dunklen Zeiten ein neues Parlament gewählt.
Foto: Keystone
LukasBaerfuss25.JPG
Lukas BärfussSchriftsteller

Es ist Krieg. Die Front verläuft zwischen Israel und dem Gazastreifen, in der Ukraine zieht sie sich von Cherson nach Saporischschja weiter in nordöstlicher Richtung. Das ist der Stand heute, aber schon morgen kann alles anders sein. 

Im Nebel des Krieges gibt es keine Orientierung. Niemand weiss, wo gekämpft werden wird, wie lange die Kriege dauern, ob und wann die nächste Eskalation kommt, das nächste Blutbad, das nächste Massaker, der nächste Niederschlag, wie schlimm es denn noch werden muss, bevor es endlich besser werden kann.

Nur die Schreie der Opfer weisen die Richtung, moralisch, politisch und militärisch, zeigen, was auf dem Spiel steht.

«
Die meisten hielten es für leeres Gerede.
Lukas Bärfuss
»

Die Angegriffenen, Israel wie die Ukraine, kämpfen gegen Aggressoren, die sie auslöschen wollen. Aus ihrer exterminatorischen Absicht haben weder Putin noch die Hamas je einen Hehl gemacht. Geglaubt haben ihnen wenige. Die meisten hielten es für leeres Gerede, für Angeberei, für billige Propaganda. Es war diesen Mördern bitterer Ernst. Wir sehen: Das Existenzrecht Israels und der Ukraine ist nicht zuerst eine völkerrechtliche oder politische Frage. Es ist eine Frage des Überlebens. Für die Menschen in den Kriegsgebieten entscheiden Sieg und Niederlage über Leben oder Tod, heute, jetzt, in der unmittelbaren Gegenwart. 

Darüber hinaus aber stehen alle, die frei sein wollen, vor dieser Entscheidung. Auch wir hier in der Schweiz. Nicht heute, nicht in diesen Stunden oder Tagen, aber spätestens, wenn Israel oder die Ukraine ihren Kampf verlieren sollten. 

Zwei Demokratien werden angegriffen. Zwei Staaten, die trotz aller Mühen und Schwierigkeiten am Rechtsstaat und an der Gewaltenteilung festhalten. In Israel haben die Menschen in diesem Sommer bewiesen, wie wichtig ihnen Recht und Freiheit sind. Zu Hunderttausenden sind sie gegen die Justizreform auf die Strasse gegangen. Alt und Jung, aus allen Gesellschaftsschichten, vereint im Kampf für die Gewaltenteilung. Ihre Rechte waren ihnen nicht abstrakte Güter, sie waren und sind existenzielle Notwendigkeit.

Das Heldentum der Menschen in der Ukraine wird uns jeden Tag vor Augen geführt, seit 605 Tagen. Wir verstehen: Notfalls werden sie mit blossen Händen für ihre Freiheit einstehen. Sie kennen die Alternative. Sie wurde ihnen über Jahrhunderte anschaulich vor Augen geführt, zuletzt in Bachmut und auf dieselbe Weise, wie es die Hamas am 7. Oktober in Israel unternahm. Durch Entführungen, durch Massaker, durch Gräuel, durch den massenhaften Mord an unschuldigen Menschen, Frauen, Greisen, Kindern.

«
Jede Generation muss für Freiheit und Gerechtigkeit einstehen.
Lukas Bärfuss
»

Diese Schandtaten zeigen auch uns hier, wie kostbar und gefährdet Demokratie, Freiheit und Rechtsstaat sind. Nichts ist garantiert. Jede Generation muss für Freiheit und Gerechtigkeit einstehen. Die Verantwortung für die Demokratie, für ein gerechtes Leben unter Gleichen, ist unteilbar. Wer sich diesem Kampf verweigert, aus Resignation oder Ignoranz, überlässt den Feinden der Demokratie die Herrschaft über die Zukunft unserer Kinder.

Wir sind nicht an der Front. Aber Krieg wird auch bei uns geführt, jeden Tag, mit den bekannten Waffen. Nicht mit Bomben und Gewehren, bei uns sind es Bankkonten und Aktiendepots. Jeder Franken von den vermutlich 150 Milliarden an russischen Vermögen, die auf schweizerischen Konten liegen, kommt dem Regime in Moskau zugute. Rohstoffe und Energie, entscheidende Kriegsressourcen, werden in unserem Land gehandelt. Jede Transaktion eines totalitären Staates unterstützt den Krieg gegen die Demokratie, gegen die Menschenrechte, gegen die Freiheit. Wir wissen es. Wir können und wollen es nicht anders. Wir sind abhängig von Mördern, von Staaten, die Terroristen unterstützen. Katar und Aserbaidschan heissen unsere Dealer, Kriegstreiber und Feinde der Demokratie alle beide. Sie liefern den Stoff, nach dem wir süchtig sind. Und mit jedem Barrel Öl, das sie uns verticken, unterstützen wir ihren Kriegszug gegen die Demokratie. 

Die Schweiz ist für zu viele Verbrecher ein sicherer Hafen. Die Sanktionspolitik der Schweiz verdient ihren Namen nicht. Die iranischen Henker haben von der Eidgenossenschaft auch weiterhin nichts, die internationale Mafia, die am selben Trog sitzt, Geschäfte macht mit Leid und Tod, viel zu wenig zu befürchten. 

«
Die Schweiz muss alles tun, um sie vor diesen Menschenfeinden zu schützen.
Lukas Bärfuss
»

Auch ideologisch ist die Schweiz Kampfplatz. Antisemitismus ist keine Frage der politischen Ausrichtung, keine Frage der Religion oder der Kultur. Er zieht sich durch jede Gesellschaftsschicht. Seine Bekämpfung ist die erste Aufgabe eines demokratischen Staates. Die jüdischen Freunde empfinden in unserem Land eine grundsätzliche, existenzielle Unsicherheit. Viele zum ersten Mal in ihrem Leben. Die Schweiz muss alles tun, um sie vor diesen Menschenfeinden zu schützen. 

Und in dieser Welt, in diesen dunklen Zeiten wählt die Schweiz ein neues Parlament. Es ist das 52. seit der Gründung des Bundesstaates vor 175 Jahren. Was sind dessen Aufgaben, was ist dessen Verantwortung? Welchen Platz hat die Geschichte für die Gewählten vorgesehen?

An ihren eigenen Massstäben gemessen, ist die Schweiz erfolgreich. Sie hat sich in den vergangenen 175 Jahren in exquisiten Ranglisten an die Spitze gebracht. Eine ordentliche Verwaltung, die tüchtige Bevölkerung, in der Aussenpolitik eine opportunistische Smartness, ohne Scheu vor unredlichen Mitteln, und wenn nötig, zu oft, sich auch für kriminelle Methoden nicht zu schade, auch nicht für die notorische Komplizenschaft mit den schlimmsten Verbrechern des bekannten Universums, um die eigenen Interessen durchzusetzen.

Diesen relativen Erfolg erreichte man vor allem durch die akribische Pflege des Sektors. Sie beherrscht die politische Haltung. Das Milizsystem bringt Fachleute in die Verwaltung und Verantwortung. In allen möglichen Disziplinen verfügt das Land über hervorragende Experten und Expertinnen. Versicherungen, Gesundheit, von den Finanzen ganz zu schweigen. Diese Sachkompetenz bringt Gewinne, damit werden Vorteile realisiert.

Aber heute, im 21. Jahrhundert, gilt: Wer nur von Finanzpolitik etwas versteht, versteht auch davon nichts. Die Zeiten einer ausschliesslich sektoriellen Politik sind vorbei. Um die grossen Herausforderungen anzugehen, reicht Fachexpertise nicht mehr aus. Jeder Krieg kann und wird eines Tages beigelegt, durch eine militärische Niederlage, durch Diplomatie, und, da gelegentlich Wunder geschehen, durch Vernunft. Für die Klimaerwärmung aber und für das Artensterben, das grösste seit 60 Millionen Jahren, seit dem Ende der Dinosaurier, und für die demografische Entwicklung gibt es keine Lösung, keinen Waffenstillstand. Ihre katastrophalen Folgen werden uns und die nächsten Generationen unweigerlich treffen. Das macht die aktuellen Kriege umso schrecklicher. Man versteht: Auch nach ihrem Ende wird kein Friede herrschen.

Die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts sind systemisch. Sie betreffen jeden Lebensbereich. Wie wir arbeiten, wohnen, was wir essen, wie wir uns bewegen, wie wir heizen, unseren Strom erzeugen, wie wir uns als Gesellschaft organisieren, wie wir unsere Sicherheit garantieren, die Migration und das Finanzsystem regeln: Das eine ist ursächlich mit dem anderen verbunden.

«
Es wird Verlierer geben. Wir werden sie entschädigen müssen.
Lukas Bärfuss
»

Die Menschen im Land haben dies längst verstanden. Der Wandel kommt unweigerlich. Es wird Verlierer geben. Wir werden sie entschädigen müssen. Bis in den oberen Mittelstand dringen die Sorgen. Die Kosten steigen. Immer weniger wissen, wie sie am Monatsende die Rechnungen bezahlen sollen. Und sie fragen sich, wie viele Renten und Prämienverbilligungen man mit dem Gewinn der UBS durch die Übernahme der Credit Suisse, mit 29 Milliarden, bezahlen könnte.

Die Politik müsste dies zur Sprache bringen. Nur eine koordinierte Politik kann diesen Herausforderungen begegnen. Dafür muss eine Demokratie Ideen und Modelle entwickeln. Und der einzige Ort, an dem dies geschehen kann, ist das Parlament. Ob es dazu den Mut hat, den Willen, die Fähigkeiten? Oder werden die eidgenössischen Räte auch weiterhin die Entscheidungen des Bundesrates abnicken, wie in der Pandemie, wie bei der CS, wie beim Abbruch der Verhandlungen zum Rahmenabkommen im Mai 2021?

Zu oft entscheidet schliesslich weder der Bundesrat noch das Parlament, sondern allein der Sachzwang, in den man sich sehenden Auges manövriert hat.

Wie keine andere Generation vor ihr steht das neue Parlament in der Verantwortung. Europa, Migration, soziale Gerechtigkeit, Klimaerwärmung – die nächste Legislatur wird keine Kutschenfahrt. Was könnte die Parlamentarierinnen und Parlamentarier ermutigen? Vielleicht ein Blick in die Geschichte. Die Gründung des Bundesstaates 1848 lag weltweit gegen den Trend. In den Hochzeiten der politischen Reaktion und des Polizeistaates erkämpfte sich die Schweiz viele bürgerliche Rechte. Muss man dumm sein, naiv oder einfach nur demokratisch, um sich diesen Mut und diese Zuversicht, den Willen, sich gegen das Schicksal aufzulehnen, auch vom neuen, dem 52. Parlament zu wünschen?

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?
Liebe Leserin, Lieber Leser
Der Kommentarbereich von Blick+-Artikeln ist unseren Nutzern mit Abo vorbehalten. Melde dich bitte an, falls du ein Abo hast. Noch kein Blick+-Abo? Finde unsere Angebote hier:
Hast du bereits ein Abo?