Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty zum Energiesparen
Jetzt müssen wir zeigen, dass wir mehr sind als nur eine Konsumgesellschaft

Können wir freiwillig Energie sparen? Natürlich können wir! Heute müssen wir zeigen, dass «der Westen» mehr ist als bloss eine Konsumgesellschaft. Dass es Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind, die unser Staatswesen ausmachen. Und dass wir für diese Werte einstehen.
Publiziert: 04.09.2022 um 08:55 Uhr
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Aktualisiert: 21.11.2022 um 13:32 Uhr
Gieri Cavelty, Chefredaktor SonntagsBlick.
Foto: Thomas Meier
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Gieri CaveltyKolumnist SonntagsBlick

Während der Finanzkrise 2008 rief uns die damalige Wirtschaftsministerin Doris Leuthard förmlich zum Konsum auf. Denn, so sagte die Bundesrätin: «Der Konsum stützt die Konjunktur auch in der Krise.»

Heute geht der Appell der Landesregierung in die entgegengesetzte Richtung. Schweizerinnen und Schweizer sollen unbedingt Energie sparen. Aber können wir das überhaupt, freiwillig Verzicht üben? Unsere moderne Welt ist auf Konsum ausgerichtet, man spricht vom Massenkonsum, vom Geltungskonsum, von der Konsumgesellschaft... Konsum ist identitätsstiftend, Verzicht für viele die schlimmste aller Zumutungen. Es kommt denn auch nicht von ungefähr, dass die drohende Knappheit von Gas und Strom zunächst einmal nicht zu Sparbemühungen geführt hat, sondern zu einem Kaufreflex: Der Onlinehändler Digitec beispielsweise verzeichnet für August einen Rekordabsatz bei tragbaren Heizkörpern (plus 464 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat), Heizlüftern (plus 185 Prozent) und Heizstrahlern (plus 150 Prozent).

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Noch am 23. Februar, einen Tag, bevor Wladimir Putin seinen Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine begann, verhängten die USA und die EU die ersten Sanktionen gegen den Aggressor. An der Uno-Vollversammlung vom 2. März verurteilten 141 Nationen in einer Resolution den Einmarsch, bei 35 Enthaltungen stellten sich nur Eritrea, Nordkorea, Syrien, Weissrussland ausdrücklich auf die Seite Russlands. Die westlichen Staaten schöpften aus diesem historischen Resultat die Hoffnung, ihre Sanktionen würden von der ganzen Welt mitgetragen. Geschehen ist leider das Gegenteil: China, Indien, die meisten Länder Südostasiens, Lateinamerikas, Afrikas möchten von der Situation profitieren und mit Moskau ins Geschäft kommen. Und so liefert Russland heute grosse Mengen Öl an Indien und Saudi-Arabien – freilich zu stark reduzierten Preisen.

Der Internationale Währungsfonds stellte vor kurzem fest, dass Russlands Wirtschaft ein halbes Jahr nach Erlass der ersten Sanktionen besser dasteht als erwartet. Demgegenüber sieht der frühere Kremlberater und heutige Regimekritiker Wladislaw Inosemzew Russland in der schwersten Rezession seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Tatsächlich sind die Einnahmen der verarbeitenden Industrie um 30 Prozent gesunken. Der russische Aktienmarkt liegt am Boden, über Insolvenzen wird nur darum nichts bekannt, weil die Regierung zu Kriegsbeginn ein Konkursverbot erlassen hat. Den totalen Kollaps der russischen Wirtschaft prophezeit allerdings auch Ökonom Inosemzew erst für 2024 oder 2025.

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Europa braucht also einen längeren Atem, als man sich das im Frühjahr vielleicht vorgestellt hat.

Natürlich feiert Putins Propaganda die explodierenden Energiepreise in Europa als grossen Triumph. Der frühere russische Präsident und Gazprom-Verwaltungsrat Dmitri Medwedew etwa – der Mann, der 2009 zu einem pompös inszenierten Staatsbesuch in der Schweiz weilte – spottet auf seinem Telegram-Kanal: «Aufgrund des Anstiegs der Gaspreise auf 3500 Euro pro tausend Kubikmeter muss ich die prognostizierten Kosten bis Ende 2022 auf 5000 Euro erhöhen. Mit warmen Grüssen!»

Dennoch bleibt uns keine andere Wahl, als die Ukraine in ihrem Freiheitskampf entschiedener denn je zu unterstützen. Es geht darum, uns selbst und der Welt unmissverständlich klarzumachen, dass «der Westen» eben mehr ist als eine blosse Konsumgesellschaft. Dass es vielmehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind, die unser Staatswesen und unser friedliches Zusammenleben im Kern ausmachen.

Und dass es das Mindeste ist, für diese Werte im Winter die Heizungen etwas runterzudrehen.

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