Simonetta Sommaruga ist die berechnendste Politikerin der Schweiz.
Sie muss das sein, weil sie aus einer Position der Minderheit politisiert. Das ist der wesentliche Unterschied zu den bürgerlichen Mitgliedern unserer Landesregierung. Diese können in aller Regel davon ausgehen, dass sie mit einem Geschäft in Bundesrat und Parlament eine Mehrheit finden. Entsprechend brauchen sie sich um die Details weniger zu kümmern. Bei der Sozialdemokratin Sommaruga ist das anders. Um ein Anliegen durchzubringen, muss sie Verbündete gewinnen. Ihre Chefbeamten führen darum für jede Vorlage eine Liste mit möglichen Partnern in den Bundeshausfraktionen, die dann frühzeitig angegangen und umworben werden.
Sommaruga hat diese Form angewandter Algebra zur Perfektion entwickelt. Das hat ihr einige überraschende Erfolge beschert. Und erbitterte Feinde. Sommaruga avancierte zur bevorzugten Zielscheibe des rechten Lagers.
Erinnern Sie sich noch an die Eritreer? Als Sommaruga Asylministerin war, beherrschten die Flüchtlinge aus dem Unrechtsstaat in Nordostafrika die politische Debatte. Keine Session verging ohne Vorstösse aus den Reihen von FDP und SVP, die Sommaruga nachgerade persönlich dafür verantwortlich machten, dass Menschen überhaupt nur auf die Idee kamen, von dort zu fliehen. Eritreer kommen weiterhin hierher, 1387 Asylgesuche waren es in den ersten neun Monaten des laufenden Jahres. Die Eritreer-Vorstösse im Parlament jedoch – sie bleiben aus. Seit dem 1. Januar 2019, also genau jenem Tag, da Karin Keller-Sutter das Asyldossier übernahm, verschwanden sie von der Traktandenliste. Desto schriller wird seitdem die Umwelt- und Energiepolitik des Bundes attackiert. Die zuständige Ministerin: Simonetta Sommaruga.
Am Mittwoch betonte die 62-Jährige vor den Medien, die permanenten Angriffe hätten ihr nichts angehabt. Keine Frage: Die Frau ist tough. «Unnahbar» und «distanziert» sind denn auch die Adjektive, die in den Porträts nach ihrer Rücktrittserklärung am häufigsten verwendet wurden. Und doch ist sie jene Bundesrätin, die sich für ihr Amt am wenigsten verstellt und verbogen hat.
Schon ganz zu Beginn ihrer Laufbahn als Bundesrätin zeigte sich Sommaruga so authentisch wie sonst niemand im Politbetrieb – und so verletzlich. Am 10. August 2010 gab die damalige Berner Ständerätin ihre Kandidatur fürs höchste Amt bekannt, indem sie zu einer Pressekonferenz mit anschliessendem Interviewmarathon einlud. Nach einer Reihe von Gesprächen vor Mikrofon und Kamera bat sie plötzlich um eine Auszeit. Sie musste sich für eine Stunde ausruhen.
Damals wollte ich von ihr wissen, ob ihr dieses Time-out nicht als mangelnde Belastbarkeit ausgelegt werden könnte. Sommarugas Antwort: «Dass man nach zwei Stunden ununterbrochenen Redens eine Pause braucht, ist nachvollziehbar. Zudem finde ich es eine Qualität und keine Schwäche, zu erkennen, dass man an die eigenen Grenzen kommt und nicht mehr in der Lage ist, frisch zu denken.» Und: «Ich finde es gut, wenn sich Regierungsmitglieder nicht immer als Übermenschen zeigen müssen.»
Nun tritt Sommaruga zurück, weil ihr Ehemann, der Schriftsteller Lukas Hartmann, einen Schlaganfall erlitten hat. Auch nach zwölf Jahren an der Macht ist die berechnendste Politikerin des Landes vorzugsweise Mensch statt Übermensch.