Zu unseren Füssen steht die schnell gepackte Notfalltasche. Victors Malsachen, mein Laptop, die ungelesene Zeitung vom letzten Sonntag. Toilettenbeutel, Wäsche zum Wechseln, Mandeln, eine Banane, eine Flasche Wasser. Wir sind auf alles gefasst, es ist ja nicht das erste Mal.
Victor hat eine simple Infektion. Die kann sich als harmlos herausstellen, mit Antibiotika bezwungen werden, vielleicht sogar zu Hause. Sie kann sich auch zu einer lebensbedrohenden Blutvergiftung auswachsen, was immer wieder passiert.
Ich breche nicht mehr gleich zusammen, wenn mir eine Ärztin erklärt, ich müsse mich auf das Schlimmste gefasst machen. Das hab ich schon zu oft gehört. Victor nennt es «mein Leben als Bibliotheksbuch: Die Ausleihdauer wird immer wieder um drei Monate verlängert».
Ja, in San Francisco kann man 50 Bücher aufs Mal ausleihen und so lange behalten, wie man will. Und das gratis. Bibliotheken sind die einzigen öffentlichen Einrichtungen, die hier funktionieren. Aber ich lenke ab. Natürlich lenke ich ab.
Victor hat die Augen geschlossen, er ist zu müde, um zu malen. Oder mit mir zu reden. Mich zum Lachen zu bringen. Je unangenehmer die momentane Lage, desto absurder seine Scherze. Heute ist er still. Ich könnte über vieles nachdenken in diesem Moment, zum Beispiel über den Tod. Stattdessen denke ich über das neue System im Parkhaus nach, das eine exakte Vorauszahlung verlangt. Was für ein Blödsinn, denke ich. Wer kann schon wissen, wann er hier wieder rauskommt?
Im Land der Kranken regiert das Nichtwissen. Das hab ich neulich einer Bekannten erklärt, bei deren Mann Vorhofflimmern diagnostiziert wurde, etwas, womit Victor fast 20 Jahre lang gekämpft hat. Ich kenne mich also unfreiwillig recht gut damit aus, doch meine Bekannte brauchte keinen medizinischen Rat.
Sie brauchte eine Reiseleiterin in diesem fremden Land, dem Land der Kranken. Niemand besucht es freiwillig, niemand bereist es allein. Die Angehörigen, die lieben Menschen, sie kommen mit, ob sie wollen oder nicht. Victor und ich, wir sind Dauergäste hier. Wir kennen uns aus.
Es ist ein ungemütliches Terrain, aber auch voller Überraschungen, voller versteckter Schönheiten. Dieses Land beherbergt einen Schatz an menschlicher Anteilnahme, den ich nicht kannte. Die sprichwörtliche Freundlichkeit von Fremden habe ich hier kennengelernt. Ich hatte grosses Glück, dieses Land zusammen mit Victor zu betreten, dem besten Fremdenführer, den ich mir denken kann. Das Erste, das ich hier gelernt habe: dass ich nichts weiss. Nichts wissen kann. Das gilt natürlich überall, nicht nur hier.
Das ist eine der grundsätzlichen philosophischen Erkenntnisse unserer Kultur, der buddhistischen Weisheit, der menschlichen Erfahrung halt. Aber hier können wir sie nicht ignorieren. Meist empfinde ich das als Prüfung. Es ist sehr schwer auszuhalten, dieses Nichtwissen. Es ist einfacher, meine Frustration an der Parkuhr festzumachen als am Wesentlichen: Wir wissen nicht, warum wir hier sind, in diesem Land, wie lang wir bleiben, ob wir überhaupt wieder rauskommen.
Heute ja. Heute wird Victor untersucht, versorgt und mit einem neuen Medikament wieder nach Hause geschickt. Wir sind noch einmal davongekommen. Später kaufe ich mir einen leuchtend bunten Blumenstrauss. «Du musst auch an dich selbst denken», habe ich meiner Bekannten erklärt. Das ist meist leichter gesagt als getan. Aber manchmal eben auch ganz einfach.