Milena Moser über Applaus zur richtigen Zeit
Eine Frau auf dem Dach

Ein kleines Drama in der Nachbarschaft erinnert mich daran, dass wir alle solche Tage haben. Tage, in denen die kleinsten alltäglichen Handlungen unmöglich scheinen. Einfache Dinge, wie die eigene Wohnungstür aufzuschliessen, werden zu unüberwindbaren Hindernissen.
Publiziert: 04.03.2024 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 04.03.2024 um 09:17 Uhr
Schriftstellerin Milena Moser (60) schreibt für Blick über das Leben. Sie ist Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Der Traum vom Fliegen».
Foto: Barak Shrama Photography
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Milena MoserSchriftstellerin

Zwei junge Männer stürmen in den kleinen Laden an der Ecke, nicht, um ihn auszurauben, sondern um Hilfe zu holen. «Kristos, hast du eine Leiter?», rufen sie. «Wir brauchen eine Leiter.» Kristos, der Besitzer, tritt zwischen den Regalen hervor und wischt sich die Hände an der Schürze ab. «Wozu braucht ihr eine Leiter?», fragt er bedächtig. Noch lässt er sich von der Panik nicht anstecken, doch die jungen Männer schreien beinahe: «Da ist eine Frau auf dem Dach!»

Jetzt lassen wir alle unsere Einkaufskörbe stehen und laufen hinaus. Die jungen Männer, die ich die Tech-Bros nenne, was statistisch gesehen vermutlich zutreffend ist, zeigen aufgeregt nach oben. Über dem Eckladen befinden sich zwei Stockwerke mit Wohnungen, und zuoberst, auf dem schrägen Dach, steht tatsächlich eine Frau. Sie trägt Pyjamahosen, Regenjacke und Fellstiefel. Mit einer Hand hält sie ihre Jacke vor der Brust zusammen, mit der anderen winkt sie uns zu, oder vielleicht winkt sie auch ab. Als wolle sie sagen, kein Grund zur Aufregung, ich weiss, was ich tue. Doch dem ist offensichtlich nicht so. 

«Keine Angst, Stacey, wir sind hier!», rufen die Tech-Bros. Jetzt kennen wir also auch ihren Namen, was der Frau sichtlich peinlich ist. Sie habe sich ausgeschlossen, erklären die jungen Männer den Umstehenden weiter, das Handy in der Wohnung gelassen und sei dann über die Feuerleiter aufs Dach gestiegen, in der Hoffnung, von da irgendwie durch ihr Badezimmerfenster reinzukommen.

Unwillkürlich entfährt mir ein tiefer Seufzer. Ich schicke eine mentale Solidaritätserklärung auf das Dach hinauf. Ich versteh diese Frau so gut! Wie oft ist mir so etwas passiert, wie oft habe ich den kompliziertesten, umständlichsten, sinnlosesten Weg gewählt, um mich aus einem selbst erzeugten Schlamassel zu retten. Einfach, weil es mir peinlich war, um Hilfe zu bitten. Oder weil ich gar nicht erst auf die Idee kam. Oh, und wie ich mich in diesen Momenten selbst verfluchte! Und ohne, dass mir die halbe Nachbarschaft dabei zuschaute ...

Die Tech-Bros steigern sich in die abenteuerlichsten Rettungsszenarien hinein, die Kristos schliesslich etwas genervt unterbricht. «Ihr braucht keine Leiter», sagt er und zeigt die Strasse hinunter, wo die Feuerwehr gerade um die Ecke biegt. Die Wache befindet sich ganz in der Nähe, trotzdem nimmt die Crew gern den leuchtend roten Löschwagen, um das Café auf der anderen Strassenseite aufzusuchen. 

Enttäuscht packen die Tech-Bros ihre Heldenfantasien wieder ein, die Feuerwehr verschiebt ihre Kaffeepause und fährt stattdessen die Leiter aus. Eine muskulöse Feuerwehrfrau, die direkt einer Fernsehserie entsprungen sein könnte, klettert behende aufs Dach und bringt die Ausgeschlossene unter dem Applaus der Umstehenden in Sicherheit.

Doch das Schönste, denke ich später, das Schönste war nicht die eigentliche Rettung. Das Schönste war, dass niemand blöde Witze oder abfällige Bemerkungen machte. Im Gegenteil, die halbe Nachbarschaft rief der Gestrandeten Mut zu, unterstützte sie, applaudierte ihr. 

Wenn ich das nächste Mal in so eine Misslage gerate – und das werde ich bestimmt –, dann werde ich mich an diesen Moment erinnern. Ich werde mich nicht selbst zerfleischen, wie dumm das wieder mal war, sondern ich werde mir eine Menschenmasse vorstellen, die mich anfeuert und mir gut zuspricht. Ich werde die Feuerwehrsirenen hören und wissen, dass ich nicht allein bin.

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