Grossbritannien läuft in den winterlichen Megahammer
Jetzt heissts «eating or heating?»

Liz Truss wird das Rennen um die Boris-Johnson-Nachfolge machen. Ihr Land steht vor der grössten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Millionen rutschen derzeit in die Armut ab. Lösungen gäbe es – doch die Politik schaut weg. Eine Analyse.
Publiziert: 04.09.2022 um 11:22 Uhr
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Morgen wählt Grossbritannien die Nachfolge von Boris Johnson.
Foto: keystone-sda.ch
Samuel Schumacher

Vor dem morgigen Montag muss sich Liz Truss (47) nicht fürchten. Die 160'000 wahlberechtigten Mitglieder der konservativen Tories werden sie als Nachfolgerin von Boris Johnson (58) an die Parteispitze wählen und damit – wegen der Mehrheitsverhältnisse im Parlament – automatisch ins Amt der Premierministerin Grossbritanniens hieven. Da sind sich die britischen Wettbüros zu 95 Prozent sicher. Was danach aber kommt, das müsste der dritten Regierungschefin der britischen Geschichte (nach Margaret Thatcher und Theresa May) mächtig Sorge bereiten.

Grossbritannien schlittert fast unaufhaltsam in die grösste Krise der Nachkriegszeit: Die Inflation bewegt sich je nach Schätzungen zwischen elf und 15 Prozent und die Strompreise sind für Privathaushalte bereits dreimal so hoch wie noch im letzten Herbst. Ein baldiges Ende des Preisanstiegs ist nicht in Sicht.

Die Gretchenfrage: Essen oder heizen?

Falls kein wirtschaftliches Wunder passiert, leben laut der Londoner Denkfabrik Resolution Foundation bald 14 der 67 Millionen Briten unter der Armutsgrenze. Bis zu zwei Drittel aller Haushalte werden in diesem Winter ihre Heizkosten nicht mehr bezahlen können. Die grosse Frage vor der anbrechenden kalten Jahreszeit lautet für schockierend viele Menschen im Brexit-Reich: «Eating or heating?», «Essen oder heizen?»

Die Gründe für den Megahammer, in den Grossbritannien geradewegs hineinläuft, sind vielfältig. Das zentrale Problem aber ist die hohe britische Abhängigkeit von ausländischem Gas: Mehr als 40 Prozent seiner Energie produziert die Insel mit dem flüchtigen Stoff. Die steigenden Gaspreise als Folge des Ukraine-Krieges treffen die Briten deswegen noch viel härter als den Rest Europas.

Truss will nichts von Rationierung wissen

Von Stromrationierungen, wie sie etwa Frankreich, Deutschland oder im Notfall auch die Schweiz für den kommenden Winter vorsehen, will Liz Truss aber nichts wissen. Das machte sie bei ihrem letzten Wahlkampfauftritt diese Woche überdeutlich. Und auch bei den Diskussionen über eine mögliche Sondersteuer für Unternehmen, die übermässig von den steigenden Energiepreisen profitieren (eine sogenannte «windfall tax»), rümpft Misses Truss bloss die Nase: «No thanks!», sagt die erzkonservative britische Aussenministerin – im Wissen darum, dass diese vermeintlich wirtschaftsfreundliche Härte im konservativen Resonanzraum der Tory-Partei wunderbar verfängt.

Liz Truss aber wird sich bald vor einem ganz anderen Publikum als den etablierten Tory-Mitgliedern verantworten müssen. Wann die nächsten Wahlen in Grossbritannien anstehen, ist aufgrund der wirren Wahlgesetze zwar nach wie vor unklar (wahrscheinlich irgendwann 2024). Politischer Tumult aber droht dem Land spätestens dann, wenn das frierende Volk im Winter genug hat von Liz Truss’ Nasenrümpfen.

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